Raucherecke (in Jungle World 38/16)
Beatrix von Storch durfte nicht in der ersten Reihe laufen. Anders als im Vorjahr war die stellvertretende Bundesvorsitzende der AfD beim zwölften »Marsch für das Leben« in Berlin nicht ganz vorn dabei. Der vom »Bundesverband Lebensrecht« (BVL) organisierte Schweigemarsch ist die jährliche zentrale Aktion fundamentalistischer Abtreibungsgegner. Er fand in diesem Jahr unter dem Motto »Kein Kind ist unzumutbar« und unter besonderen Umständen statt: einen Tag vor den Wahlen in Berlin, parallel zu den Großdemonstrationen gegen Ceta und TTIP und einen guten Monat, nachdem der Gemeinsame Bundesausschuss ein Verfahren eröffnet hat, das den Bluttest auf Trisomien zur Regelleistung der Krankenkassen machen könnte. Folgerichtig bestimmte das Thema Pränataldiagnostik die Auftaktkundgebung des Marsches. Allein vier Redner beschäftigten sich mit den selektiven und behindertenfeindlichen Implikationen des Tests, darunter der ehemalige Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Hubert Hüppe, und eine junge Frau, die mit Trisomie 21 lebt.
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Texte
„Es gibt feministische Argumente gegen Abtreibungen“
27. November 2015, Süddeutsche.de
Dass Frauen das Recht auf Abtreibung haben sollten, ist innerhalb der Frauenbewegung Konsens. Kirsten Achtelik betritt daher dünnes Eis, wenn sie in ihrem Buch „Selbstbestimmte Norm“ mit der Pränataldiagnostik abrechnet, weil diese zu selektiven Abtreibungen führe. Dabei erliegt sie jedoch nicht der Versuchung, Behinderten- und Frauenrechte gegeneinander auszuspielen, sondern fordert für alle mehr Selbstbestimmung – auch wenn das heißen würde, auf Informationen zu verzichten.
Interview von Barbara Vorsamer
SZ: Frau Achtelik, Sie bezeichnen sich als Feministin und sehen Abtreibung kritisch. Wie passt das zusammen?
Kirsten Achtelik: Wenn eine Frau ungewollt schwanger ist und sie zu diesem Zeitpunkt kein Kind haben will, dann sollte sie ihre Schwangerschaft beenden dürfen. Kritisch sehe ich es, wenn eine Frau zwar ein Kind will – aber nicht dieses. Hier wird aus dem Recht auf Abtreibung eine Pflicht zur Selektion und aus den Möglichkeiten der Pränataldiagnostik ein Qualitätscheck für zukünftige Babys. Das kommt in der feministischen Debatte selten vor.
Warum ist das so?
Abtreibung ist in Deutschland eine Straftat nach Paragraf 218 und nur unter bestimmten Umständen straffrei. Feministische Aktivistinnen sind daher noch damit beschäftigt, für Frauen das uneingeschränkte Recht zu erkämpfen, selbst über ihr Leben und ihren Körper zu entscheiden. Zu thematisieren, dass Schwangerschaftsabbrüche auch problematisch sein können, kommt manchen einem Angriff auf die Selbstbestimmung der Frau gleich. Doch eine Schwangere auf dem Gynäkologenstuhl ist oft nicht besonders selbstbestimmt.
Unterschätzen Sie die Frauen da nicht?
Nein. Die Frage, wie selbstbestimmt wir wirklich sind, ist eine grundsätzliche. Niemand – nicht Frau, nicht Mann – ist komplett selbstbestimmt, wir unterliegen immer gesellschaftlichen Einflüssen. Einer Schwangeren wird von Ärzten suggeriert, dass es Standard ist, vor der Geburt alles Mögliche abklären zu lassen. Auch das Umfeld macht mit, Fragen wie „Ist alles in Ordnung mit dem Baby?“ oder „Hast du diese oder jede Untersuchung schon gemacht?“ werden Schwangeren ständig gestellt. Wer keine pränatale Diagnostik wünscht, muss sich gegen viele Widerstände durchsetzen und sehr gut informiert sein. Anders gesagt: Um ihr Recht auf Nicht-Wissen durchzusetzen, muss eine Frau erst mal sehr viel wissen.
Was spricht dagegen, so viel wie möglich über das Ungeborene herauszufinden? Allein durch das Wissen kommt es ja nicht zu einem Abbruch.
Eben doch. Die wenigsten Eltern überlegen sich vorher, was sie tun wollen, wenn eine Auffälligkeit festgestellt wird. Die Motivation für die Tests ist meistens, dass sie erfahren wollen, dass alles in Ordnung ist. Ist das nicht der Fall, wird eine Abklärungsdynamik in Gang gesetzt, an deren Ende eine Entscheidung ansteht. Und dass die meistens „Abbruch“ heißt, ist systemimmanent: Die große Mehrheit aller Föten, bei denen Trisomie 21 festgestellt wird, werden abgetrieben. Das erhöht den Druck dann zusätzlich. Es ist erschreckend, wie viele Eltern von Kindern mit Behinderung gefragt werden: „Wusstet ihr das nicht vorher?“ Das ist eine übergriffige Frage, die impliziert: Warum habt ihr dieses Kind bekommen? Warum habt ihr es nicht abgetrieben? Solche Fragen sind ein Skandal!
Hier sind Sie auf einer Linie mit den selbsternannten Lebensschützern, die Abtreibung unter Strafe stellen wollen und unter anderem mit Lebensrecht behinderter Menschen argumentieren. Sind das Ihre Verbündeten?
Auf gar keinen Fall. Die Argumentation der Lebensschützer ist unredlich. Sie benutzen die Rechte behinderter Menschen nur als Vorwand, um Druck auf Frauen auszuüben. So versuchen sie, sich als die einzigen Vertreter eines positiven Menschenbildes zu verkaufen, das dem Leben zugewandt ist. Ich hingegen fordere ein uneingeschränktes Recht auf Abtreibung, lehne aber gleichzeitig selektive Diagnostik ab. Mir geht es darum, Frauenbewegung und Behindertenbewegung zusammenzubringen.
Welche Untersuchungen sehen Sie kritisch? Welche sind in Ordnung?
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Wahl oder Pflicht? Schwangere zwischen Selbst- und Fremdbestimmung
Pränatale Untersuchungen während der Schwangerschaft sind ein hoch emotionales Thema. Mit der Ausweitung diagnostischer Methoden – wie etwa dem nicht invasiven Bluttest PraenaTest – steigt der Druck auf werdende Mütter. Alle medizinischen Möglichkeiten zum Ausschluss einer Behinderung des eigenen Kindes auszuschöpfen, scheint mehr und mehr zur Pflicht zu werden. Ein Abbruch der Schwangerschaft wird zunehmend zur „Lösung“ nach einer Diagnose. Unsere Autorin beschreibt, in welchem Spannungsfeld sich Schwangere heute positionieren müssen. Und sie stellt infrage, dass die neuen medizinischen Möglichkeiten wirklich zu mehr Selbstbestimmung der Frau führen, so wie es im feministischen Diskurs häufig behauptet wird.
Der Vorsitzende der Deutschen Gesellschaft für Humangenetik, Klaus Zerres, sagte im Juni 2015 auf einer Veranstaltung des Gunda-Werner-Instituts in Berlin, man könne den PraenaTest nicht kritisieren, wenn man nicht bereit sei, die gesamte Praxis der pränatalen Diagnostik (PND) infrage zu stellen. Zwar sind der Test und die Art, wie diese neuartigen nicht invasiven pränatalen Tests vermarktet werden, bereits an sich fragwürdig, allerdings passen sie sich hervorragend in die bisherige Logik pränataler Untersuchungen ein.
mehr in der Printausgabe Dr. med. Mabuse Nr. 221 (3/2016) Schwerpunkt: Familie
Nicht ihr Gesetz
Menschen mit Behinderung demonstrierten in Berlin für Gleichstellung (in Jungle World 19/16)
Am europäischen Protesttag zur Gleichstellung von Menschen mit Behinderung kamen vergangene Woche in Berlin deutlich mehr Menschen als in den Jahren zuvor zusammen. Die Demonstration gipfelte in einer zeitweiligen Besetzung des Bundesministeriums für Arbeit und Soziales.
Zika schürt Angst vor Behinderung
Die Vermutung, dass der von Mücken übertragene Zika-Virus für die Zunahme an Fällen von Mikrozephalie in Brasilien verantwortlich ist, scheint sich zu bestätigen. Weltweit hat dies zu einer panikartigen Angst vor Behinderung geführt. (in GID 235, April 2016 S. 31 – 32, dort auch Anmerkungen und Belege)
„Je mehr wir wissen, desto schlimmer sieht es aus“, erklärte die Generaldirektorin der Weltgesundheitsorganisation (WHO), Margaret Chan, am 22. März der Presse. Im Februar dieses Jahres hatte die WHO die Verbindung einer raschen Ausbreitung des Zika-Virus mit der Häufung von Mikrozephalie und anderen neurologischen Abweichungen zum internationalen Gesundheitsnotstand erklärt. Dies ist die allerhöchste Warnstufe, durch die Staaten außerhalb der betroffenen Gebiete aufgefordert werden, Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Erregers zu unterstützen. Zuletzt hatte die WHO im Jahr 2014 wegen der Ebola-Epidemie in Westafrika einen solchen Gesundheitsnotstand ausgerufen. Eine Ansteckung mit Zika führt bei nur etwa 20 Prozent der erwachsenen Infizierten überhaupt zu Symptomen, die einer leichten Grippe ähneln und normalerweise nach wenigen Tagen vollständig abklingen: Fieber, Gelenkschmerzen oder Ausschlag. Das vor dem jetzigen Ausbruch als harmlos geltende Virus wird von der Stechmücke Aedes aegypti übertragen.
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„Grenze überschritten“
Der »Peter-Singer-Preis für Strategien zur Tierleidminderung« wird am kommenden Samstag zum zweiten Mal verliehen, diesmal an Ingrid Newkirk, die Mitbegründerin der Tierschutzorganisation PETA (People for the Ethical Treatment of Animals). Über alte und neue Preisträger sprach die Jungle World mit Matthias Vernaldi, der sich seit Jahren behindertenpolitisch engagiert und beim Aktionsbündnis »Kein Forum für Peter Singer« aktiv ist. (in Jungle World 16/16)
Small Talk von Kirsten Achtelik
Keine Smarties in Neukölln
Ein katholischer Apotheker in Berlin will Kundinnen die Benutzung von Verhütungsmitteln ausreden. Bei der »Pille danach« ist aber auch die Bundesregierung gegen zu viel Selbstbestimmung. (in Jungle World 16/16)
»Unverschämtheit!« Dieses Wort im Tweet einer Sexarbeiterin über einen inoffiziellen Beipackzettel in der Kondomschachtel löste Anfang April eine unerwartete mediale Aufmerksamkeit aus. Urheber des Zettels, auf dem für »einen verantwortungsvollen Umgang mit Verhütungsmitteln« im Sinne einer »grundsätzlichen Offenheit und Bereitschaft, Kinder zu bekommen« geworben wurde, ist ein bekannter Apotheker in Berlin-Neukölln. Die Undine-Apotheke, idyllisch am Landwehrkanal gelegen, wird von dem Katholiken Andreas Kersten betrieben. Der Tweet der Sexarbeiterin mochte bei manchen nur die erstaunte Frage auslösen, wer denn bloß Kondome in der Apotheke kaufe. Andere reagierten mit einem ungehaltenen »Grrr, der schon wieder«. Der Sprecher des Berliner Erzbistums, Stefan Förner, fand die Idee hingegen »originell« und die »Lebensschützer« von Kaleb e. V., die den Berliner »Marsch für das Leben« mitorganisieren, kommentierten auf ihrer Facebook-Seite: »Hut ab«.
Risiko und Nebenwirkung
In Lateinamerika lassen immer mehr Schwangere präventive Abbrüche durchführen – aus Angst vor Beeinträchtigung des Kindes durch das Zika-Virus. Eine Langfassung des Beitrags von Kirsten Achtelik aus konkret 6/16
Das brasilianische Gesundheitsministerium hatte bereits im November 2015 den nationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen, da es die Zunahme von Schädelfehlbildungen bei Neugeborenen mit einer Infektion durch das Zika-Virus in Zusammenhang brachte. Im Februar zog die Weltgesundheitsbehörde (WHO) nach und rief einen internationalen Gesundheitsnotstand aus. Dieses Instrument, durch das Staaten außerhalb der betroffenen Gebiete aufgefordert werden, Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Erregers zu unterstützen, hatte sie zuletzt 2014 wegen der Ebola-Epidemie im westlichen Afrika genutzt. mehr … Risiko und Nebenwirkung
Zibechi, Raúl
Territorien des Widerstands. Eine politische Kartografie der urbanen Peripherien Lateinamerikas
Aus dem Spanischen von Kirsten Achtelik und Huberta von Wangenheim
ISBN 978-3-86241-402-4
2011, 176 Seiten, vergriffen, 16,00 Euro, Assoziation A
Zum Buch
In den riesigen Armenvierteln lateinamerikanischer Megalopolen haben sich in den vergangen zwanzig Jahren Territorien des Widerstands herausgebildet, die mit den von den Medien transportierten Bildern aus Elendsvierteln wenig zu tun haben. Ob in den Barrios von Mexiko-Stadt, den Favelas Brasiliens oder den Armenvierteln von Buenos Aires, Lima oder Caracas – überall haben Campesinos, städtische Arme und Indigene völlig neue Organisationsformen und Überlebensstrategien entwickelt.
Die internationale Debatte um Genome Editing
„Genome Editing“ – seit CRISPR-Cas diskutiert die Wissenschaftsgemeinde wieder über eine gezielte und tiefgreifende Veränderung von menschlichen Genen. Ein Überblick über die internationale Debatte. (in GID 234, Februar 2016 S. 12 – 14 , dort auch Anmerkungen und Belege)
„Don’t edit the human germ line“ forderten im März 2015 mehrere bekannte Forscher_innen, unter ihnen Edward Lanphier, Manager der Biotech-Firma Sangamo BioSciences, in dem britischen interdisziplinären Fachmagazin Nature. Die Gruppe sprach sich „in dieser frühen Phase“ gegen jede Anwendung von Genome Editing am Menschen aus und schlug ein freiwilliges Moratorium der Wissenschaft vor. Offenherzig bekannten die Wissenschaftler_innen ihre Motivation: Sie selbst forschen an somatischen Anwendungen für die Techniken. Sie befürchten negative Effekte auf ihre Arbeit, wenn in der öffentlichen Debatte über die Gefahren der Technik die Anwendungsfelder nicht strikt getrennt werden. Von der genetischen Modifikation somatischer Körperzellen versprechen sie sich Fortschritte für die Behandlung von HIV/Aids, bestimmten Krebsarten oder der Bluterkrankheit. Manipulationen der menschlichen Keimbahn, die genetisch vererbbare Veränderungen bewirken, hätten dagegen keinen vorstellbaren medizinischen Nutzen, der nicht von anderen, weniger gefährlichen Techniken wie in vitro Befruchtung (IVF) mit anschließender Präimplantationsdiagnostik (PID) erfüllt werden könne. Die Forscher_innen zeigten sich zudem besorgt darüber, dass das Editieren der menschlichen Keimbahn den Weg zum Enhancement freimachen könnte. Lobend bezogen sie sich auf die Debatte über die Zulassung des Mitochondrien-Ersatzes in Eizellen in Großbritannien.
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