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Antifa versus Abgabenordnung

Das Berliner Finanzamt hat der »Vereinigung der Verfolgten des Nazi­regimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten« die Gemeinnützigkeit aberkannt. Mehr als 17 000 Menschen haben eine Petition gegen die Entscheidung des Finanzamts unterzeichnet. In der Jungle World 49/2019

Antifaschismus ist nicht gemeinnützig. Das meint zumindest das Berliner ­Finanzamt. Anfang vorigen Monats entzog die Behörde der »Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes – Bund der Antifaschistinnen und Antifaschisten« (VVN-BdA) die Gemeinnützigkeit. Der Verein machte dies am vorvergangenen Freitag öffentlich und erhielt daraufhin zahlreiche Solidaritätsbekundungen.

Dass die 1947 von Überlebenden der Konzentrationslager und anderen NS-Verfolgten gegründete Organisation keine der Allgemeinheit nützlichen Zwecke verfolgen soll, mag unvorstellbar erscheinen. Der Vorwurf, zu links zu sein, um als gemeinnützig gelten zu können, wurde allerdings schon häufiger gegen antifaschistische Vereine er­hoben. Erst Ende Oktober hatte das ­Finanzamt im baden-württembergischen Ludwigsburg dem dortigen ­»Demokratischen Zentrum – Verein für politische und kulturelle Bildung« ­(Demoz) die Gemeinnützigkeit ent­zogen, unter anderem weil Rechtsextreme nicht an Veranstaltungen des ­Zentrums teilnehmen dürfen (Jungle World 47/2019).

Den Status der Gemeinnützigkeit von Vereinen regelt die bundesweit geltende Abgabenordnung (AO), die allgemeine Vorschriften und grundsätzliche Regelungen zum Steuer- und Abgabenrecht enthält. Die AO gewährt gemeinnützigen Vereinen steurliche Privilegien und ermöglicht es, Spenden oder Mitgliedsbeiträge an solche Vereine steuerlich abzusetzen; auch die Zuwendungen mancher Träger sind an die Gemeinnützigkeit gekoppelt.

Gemäß Paragraph 52 der AO verfolgt eine Organisation gemeinnützige Zwecke, »wenn ihre Tätigkeit darauf gerichtet ist, die Allgemeinheit auf materiellem, geistigem oder sittlichem Gebiet selbstlos zu fördern«. Nach Paragraph 51 der AO ist ein Verein zudem nur dann gemeinnützig, wenn seine Tätigkeit nicht verfassungswidrig ist und sich nicht gegen den »Gedanken der Völkerverständigung« richtet. In Absatz 3 des Paragraphen heißt es, »bei Körperschaften, die im Verfassungsschutzbericht des Bundes oder eines Landes als extre­mistische Organisation aufgeführt sind«, sei »widerlegbar davon auszugehen«, dass sie diese Voraussetzungen nicht erfüllten.

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Sie darf

Urteil zu sexueller Selbstbestimmung

Eine schwangere Teenagerin verklagt ihre Mutter: Sie will abtreiben, die Mutter ist dagegen. Ein Gericht entschied nun im Sinne der Schwangeren. In der taz vom 4.12.2019

Eine 16-Jährige wird schwanger, kann sich aber nicht vorstellen, ein Kind zu bekommen. Ihre Mutter, bei der sie wohnt, ist gegen einen Abbruch. Darf die junge Frau selbst entscheiden, ob sie die Schwangerschaft abbrechen lässt? Muss sie ihre Eltern informieren und um Erlaubnis bitten? Müssen dann beide, Mutter und Vater, einverstanden sein? Das Oberlandesgericht (OLG) Hamm hat diese Fragen Ende vergangener Woche zugunsten der jungen Frau entschieden. Ihr Anwalt, Oliver Tolmein von der Hamburger Kanzlei „Menschen und Rechte“, begrüßte das Urteil als „Ausdruck eines modernen Medizinrechts“.

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Behindertenbeauftragter verteilt Seitenhiebe

UN-Konvention schreibt klare Rechte fest, doch Rechtsruck, Sparzwang und Jens Spahn gefährden diese. Im Neuen Deutschland vom 03.12.2019

Erstmals hat der Behindertenbeauftragte der Bundesregierung, Jürgen Dusel, Teilhabeempfehlungen an die Bundesregierung veröffentlicht. Anlass ist der Internationale Tag der Menschen mit Behinderungen am 3. Dezember sowie der zehnte Jahrestag des Inkrafttretens der Behindertenrechtskonvention der Vereinten Nationen (UN-BRK) in Deutschland. Zeit, den Stand der Inklusion genauer zu betrachten, findet Dusel.

Bei der Präsentation am Montag hielt er sich mit expliziter Kritik an der Regierung zurück, zwischen den Zeilen blitzte jedoch immer wieder deutlicher Ärger über die fehlende Umsetzung der UN-BRK und über mögliche Rückschritte auf. Auch ein Seitenhieb auf die AfD, die mit besonders behindertenfeindlichen Forderungen und Kleinen Anfragen auffällt, fehlte nicht. Ohne die extrem rechte Partei explizit zu nennen, warnte Dusel vor politischen Kräften, die jahrzehntelang sicher geglaubte demokratische Grundkonsens infrage stellen würden.

Mehr von dem Text ist leider nur für ND-Abonent*innen lesbar…

Analysieren und diskriminieren

Das »Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens« erlaubt der Polizei, DNA-Spuren zu analysieren, um auf das Aussehen von Verdächtigen zu schließen. Kritiker befürchten, so werde Diskriminierung befördert. In der Jungle World 48

Von Blutspuren auf das Aussehen oder das Alter von Verdächtigen schließen: Was die Polizei bislang nur in Bayern durfte, wird künftig bundesweit erlaubt sein. Am vorvergangenen Freitag beschloss der Bundestag mit den Stimmen der Regierungsparteien ein »Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens«. Die Grünen, die FDP und die Linkspartei stimmten dagegen, die AfD-Fraktion enthielt sich. 
Besonders kritisiert wird die Zulassung erweiterter DNA-Analysen. Mit deren Legalisierung folgt der Bundestag dem im Mai vorigen Jahres beschlossenen bayerischen Polizeigesetz, das für große Proteste sorgte (Jungle World 13/2018). Das neue Gesetz sieht vor, dass die Polizei aus Tatortspuren genetische Hinweise auf Augen- und Haarfarbe, Pigmentierung der Haut und das Alter von Verdächtigen gewinnen darf. Vor der Gesetzesänderung war dies nur für die Geschlechtszugehörigkeit erlaubt.

Der Verein »Gen-ethisches Netzwerk« hatte vor dem Beschluss des Bundestags kritisiert, dass die Technologie zur Vorhersage der Pigmentierung von Haut, Haaren und Augen keineswegs so ausgereift sei, wie Politiker und einige Wissenschaftler behaupteten. »Eine Fehlleitung von Ermittlungen aufgrund von zu großem Vertrauen in die DNA-Technologie erscheint demnach höchst wahrscheinlich«, heißt es in einer Pressemitteilung der Organisation. mehr

Beschleunigung heißt noch nicht mehr Opferschutz

Frauenverbände sehen Licht und Schatten im neuen »Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens« in Deutschland, Neues Deutschland, 25.11.2019

Mit den Stimmen der Regierungsparteien CDU/CSU und SPD beschloss der Bundestag vor wenigen Tagen das »Gesetz zur Modernisierung des Strafverfahrens«. Bündnis 90/Die Grünen, FDP und die Linkspartei stimmten gegen das große Gesetzespaket, das auch die umstrittene Zulassung der Erweiterten DNA-Analyse enthält; die AfD-Fraktion enthielt sich. Im Bundesrat wird das Gesetz voraussichtlich am 29. November beschlossen.

Ein wichtiges Ziel des Gesetzes ist eine Beschleunigung von Strafverfahren. Dies wird vom Bundesverband Frauenberatungsstellen und Frauennotrufe (bff) begrüßt, da die langen Zeiträume von einer Anzeige bis zur Rechtskraft eines Urteils gerade für Gewaltopfer sehr belastend sind. Opferzeugen wird oft davon abgeraten, vor Abschluss des Verfahrens eine Therapie zu beginnen, da sonst Gutachten die Glaubwürdigkeit anzweifeln könnten. Mehr ist hinter einer Aboschranke

Diese Menschen fürchten, alles zu verlieren, was ihnen wichtig ist

Eigentlich wollte Gesundheitsminister Jens Spahn die Situation von Beatmungspatienten verbessern. Jetzt könnte sein Gesetzentwurf dazu führen, dass viele Menschen mit schweren Behinderungen im Pflegeheim landen. Aber sie wissen sich zu wehren. 15. November 2019 auf Perspective Daily

Auch Menschen mit Behinderungen wollen ein selbstbestimmtes Leben führen. Die Behindertenbewegung hat seit den 80er-Jahren verschiedene Modelle entwickelt, damit Menschen mit Behinderung nicht ständig auf ihre Eltern oder Partner angewiesen sind oder im Heim leben müssen. Eines dieser Modelle ist die persönliche Assistenz. Mit Unterstützung durch Assistentinnen und Assistenten können auch Menschen, die einen hohen Pflegegrad haben, in ihren eigenen 4 Wänden wohnen und am gesellschaftlichen Leben teilhaben. Mehr

Falsche Hilfe für Frauen

Gegen eine Beratungsstelle für Schwangere der „Lebensschutz“-Organisation Pro Femina regt sich Widerstand. Selbst die SPD fordert inzwischen die Schließung. In der taz vom 12.11.19, S. 23 Berlinteil

Pro Femina hat am 1. Juli in Berlin eine Schwangerschaftskonfliktberatungsstelle eröffnet – und stellt keine Beratungsscheine für ungewollt Schwangere aus. Der Vorstandsvorsitzende des Vereins, Kristijan Aufiero, bezeichnete diese bereits 2008 in einem Interview auf einer Pro-Femina-nahen Website als „Tötungslizenzen“. Diese Beratungsscheine brauchen Schwangere in Deutschland aber, um ungestraft abtreiben zu können. Pro Femina ist ein als gemeinnützig anerkannter Verein, der laut eigenen Angaben in diesem Jahr bereits 12.420 schwangere Frauen beraten hat, die meisten online oder telefonisch.

Die Delegierten des Berliner Landesparteitags der SPD haben diese Praxis am 26. Oktober verurteilt und die Schließung der Beratungsstelle gefordert. Daniela Döbler, die stellvertretende Landesvorsitzende der antragstellenden Jusos, spricht gegenüber der taz von einem „politischen Beschluss, der den Handlungsbedarf aufzeigen“ solle. Die von der Beratungsstelle betriebene „Irreführung von Schwangeren“ führe im schlimmsten Fall zu einer Überschreitung der gesetzlich vorgesehenen Frist von 12 Wochen, was den Abbruch einer ungewollten Schwangerschaft sehr erschwere.

Grundlage der Anträge ist eine Recherche des Onlineportals Buzzfeed vom vergangenen Dezember. Eine Reporterin hatte sich als schwanger ausgegeben und sich in den beiden bisherigen Beratungsstellen in München und Heidelberg beraten lassen. Die vorgeblich ungewollt Schwangere sei erst spät darüber informiert worden, dass Pro Femina keine Beratungsscheine ausstelle, konkrete Informationen über die von ihr gewünschte Abtreibung haben die Beraterinnen nicht vermittelt, stattdessen Hilfen angeboten für den Fall, dass sie das Kind doch bekomme. Buzzfeed wirft der „Lebensschutz“-Organisation daher Manipulation und Ausübung von moralischem Druck auf hilfesuchende Frauen vor. Staatlich anerkannte Beratungsstellen sind durch das Schwangerschaftskonfliktgesetz verpflichtet, ergebnisoffen zu beraten. Das ist bei Pro Femina nicht der Fall. Der „Lebensschutz“-­Organisation geht es in erster Linie um die Verhinderung von Schwangerschaftsabbrüchen.

Auf der Website lässt sich die Zugehörigkeit zur „Lebens­schutz“-­Bewegung nur mit Expertenwissen erahnen, etwas deutlicher wird sie auf der Kampagnenwebsite der Organisation „1000plus“. Hier finden sich die Jahresberichte des Vereins und die Verbindung zur Stiftung „Ja zum Leben“ und zur europäischen Vernetzung von „Lebensschutz“-Initiativen, „One of Us“.

Von der Website von Pro Femina führt aber keine Verbindung zu 1000plus – hier ist alles auf die hilfesuchende Schwangere fokussiert. Auf eine Anfrage der taz antwortete der Vorstandsvorsitzende des Vereins nur mit Gegenfragen. Er schreibt: „Leider machen wir mit Journalisten aus dem linksextremen Lager immer wieder die gleiche Erfahrung: Sie schrei­ben, was sie wollen – ganz unabhängig davon, was stimmt und was nicht, und ganz gleich, ob wir auf Fragen antworten oder nicht.“ Dem Onlineportal Buzzfeed wirft Aufiero auf der Website von 1000plus „gezielte Desinformation“ vor. Eine Unterlassungsaufforderung bezüglich Aussagen des beinahe ein Jahr alten Artikels habe es jedoch nicht gegeben, erklärt die Autorin des Artikels und Buzzfeedredakteurin, Juliane Löffler, auf Anfrage.

Aufiero sieht sich und seine Arbeit zu Unrecht angegriffen und zunehmend unter Druck. Eine Sachbeschädigung im Treppenhaus der Beratungsstelle, zu der es Anfang Oktober eine Erklärung auf dem linken Bewegungsportal indymedia gab, stilisieren er und rechte Medien zu einem „Anschlag“ hoch. Der Beschluss des SPD-Landesparteitages ist für ihn ein „2. Anschlag“ auf die Beratungsstelle; entsprechend dieser Wahrnehmung warnt er vor „dem neuen Linksextremismus“.

Auf der Website von Pro Femina findet sich mittlerweile unter der Rubrik „Unsere Arbeit“ der Hinweis, dass Pro Femina „NICHT Teil des staatlichen Beratungssystems“ ist und keine Beratungsscheine ausstellt. Dieser Hinweis existierte mindestens bis kurz vor der Veröf­fentlichung der Buzzfeed-Recherchen im Dezember 2018 nicht. Für die Feministin ­Döbler ist dieser Hinweis nicht ausreichend, er müsse mindestens „prominent auf der Startseite“ zu finden sein, ohne dass man sich bis zu der entsprechenden Seite durchklicken muss.

Die Beratungsstelle in Berlin ist für Döbler vor allem ein Symptom dessen, dass Abtreibungsgegner die aktuelle Gesetzeslage nutzen, um ihre Agenda durchzusetzen. Der Zwang zur Beratung werde missbraucht, um mit ungewollt Schwan­geren in Kontakt zu kommen. Auf das Pro­blem des Verbots von Schwangerschaftsabbrüchen weist auch Lisa Müller vom queerfemi­nistischen Bündnis What the Fuck hin. Das Bündnis hatte schon am 1. August eine Kundgebung vor der Beratungsstelle durchgeführt und deren Schließung gefordert. Müller geht davon aus, dass das umstrittene „Werbeverbot“ in Paragraf 219a dazu führt, dass suchmaschinenoptimierte Websites wie die von Pro Femina leichter gefunden würden, da Ärztinnen sehr vorsichtig sein und überlegen müssten, welche Informationen sie auf welche Weise online stellen.

Die Pressesprecherin der Senatsverwaltung für Gesundheit, Pflege und Gleichstellung, Lena Högemann, antwortete auf die Anfrage der taz nach einer Reaktion auf den konsensualen Parteitagsbeschluss, Debatten innerhalb der SPD könne die Senatsverwaltung nicht kommentieren. Aktuell werde aber „keine Möglichkeit einer Prüfung oder eines Vorgehens gegen die Beratungsstelle Pro Femina gesehen“. Berlin werde das Thema allerdings beim nächsten Koordinierungskreis zwischen Bund und Ländern einbringen, um auf dieser Ebene eine juristische Prüfung vornehmen zu lassen. Ein „Vorgehen ­gegen Beratungsstellen, die möglicherweise unseriös arbeiten“, sei „juristisch sehr komplex“. Über die Ergebnisse des Treffens, das am 5. und 6. November in Köln stattfand, war bis Redaktionsschluss noch nichts bekannt.

„Man kann niemanden dazu zwingen, ein Kind zu bekommen“

Kirsten Achtelik kritisiert die Idee, Menschenrechte auf Föten auszudehnen. Was das Thema Abbruch bei Behinderung betrifft, müssten Feministinnen aber genauer hinsehen. Interview Vanessa Gaigg Der.Standard, 12. Oktober 2019

STANDARD: Die Organisatoren vom Marsch fürs Leben fordern etwa: „Jeder Mensch, ganz gleich wie alt oder jung, groß oder klein, stark oder schwach, hat dasselbe Recht auf Leben.“ Da kann man nicht unbedingt widersprechen, oder?

Kirsten Achtelik: Dahinter steckt die Ansicht, dass bereits beim Verschmelzen von Ei- und Samenzelle ein Mensch entstanden sei. Die Bewegung versucht so, die herkömmliche Idee der Menschenrechte auf Föten auszudehnen. So werden zwei vermeintliche Akteure gegeneinander ausgespielt, das „ungeborene Leben“ und die schwangere Person. Allein mit ihrem Namen versuchen die sogenannten Lebensschützer sich als die moralisch korrekte Bewegung darzustellen. Denn wer kann schon was dagegen haben, wenn man für das Leben ist? Sie versuchen ein Spektrum zu besetzen, in dem man gar nicht widersprechen kann.

STANDARD: Sind sie damit erfolgreich?

Achtelik: Teilweise. Der Sprachgebrauch ist relativ weit in die Mitte der Gesellschaft vorgedrungen. Auch Mainstream-Zeitungen oder Hebammen sprechen von „ungeborenem Leben“ – ohne zu reflektieren, dass es sich dabei um keine neutrale Sprache handelt. Die Debatte über Leben ist aber auch eine, die durch technische Fortschritte befeuert wurde: Wenn man in den Körper der Schwangeren reinschauen kann, niedliche Bilder und 3D-Ausdrucke produziert werden, dann verschwimmt das Baby mit dem Fötus in der allgemeinen Wahrnehmung. Aber der Erfolg der sogenannten Lebensschützer hat natürlich Grenzen, da es sich um eine christlich-fundamentalistische Bewegung handelt und nicht alle Projekte mehrheitsfähig sind.

STANDARD: Ist es wirklich gerechtfertigt, von Fundamentalisten zu sprechen?

Achtelik: Es ist eine religiöse, keine rein politische Bewegung. Und in ihrer Religiosität ist sie sehr konservativ und beruft sich auf eine Auslegung der Bibel, die als fundamentalistisch definiert werden kann: Sie geht von einem Bild von heterosexuellen Männern und Frauen aus, die sich in der Ehe zum Zweck des Kinderkriegens verpartnern. Alle anderen Begehren und Formen des Zusammenlebens werden ausgegrenzt. Es gibt Vernetzungen zu Initiativen gegen die Ehe für alle oder zu sogenannten Homoheilern. Das Kerngeschäft ist aber tatsächlich der Schutz des Lebens von Anfang bis Ende. Also auch Sterbehilfe wird stark kritisiert und als Euthanasie bezeichnet.

STANDARD: Immer wieder tauchen auf Demonstrationen auch Plakate mit Begriffen wie „Babycaust“ auf. Hat die Gleichsetzung mit NS-Begrifflichkeiten dort Tradition?

Achtelik: Das ist leider kein Alleinstellungsmerkmal der sogenannten Lebensschützer. Gleichsetzungen wie diese nehmen allgemein zu. Was Dinge wie den „Babycaust“ betrifft: Da fahren verschiedene Strömungen verschiedene Strategien. Die einen versuchen, Frauen als zweites Opfer einer Abtreibung zu stilisieren – dafür wurde etwa das „Post-Abortion-Syndrom“ erfunden. Die anderen versuchen die totale Skandalisierung und setzen Abtreibung nicht nur mit Mord, sondern auch mit Genozid gleich. Da sind nicht nur die Ärzte, sondern auch die Frauen Mörderinnen. Und in dieser extremen Gedankenwelt ergibt das auch Sinn: Glaubt man wirklich, dass bei jeder Abtreibung ein Baby ermordet wird, dann kommt man tatsächlich zum Schluss, dass es mehr Opfer gibt, als der Holocaust gefordert hat. Die Leugnung der Singularität des Holocaust und der organisierten Vernichtung wird dabei zumindest in Kauf genommen.

STANDARD: Die Bewegung gibt sich auch als Anwalt von Behinderten, wenn sie beispielsweise gegen die Möglichkeit von Spätabbrüchen bei bestimmten Diagnosen mobilmacht, wie etwa die österreichische Initiative Fairändern. Treffen sie hier auf eine Leerstelle des Feminismus?

Achtelik: Hier wird versucht, die Fristenregelung über die Hintertür anzugreifen. Aber nicht alle Kritikpunkte sind an den Haaren herbeigezogen: Es ist leicht, sich als Vertreter der „Schwächsten der Schwachen“, wie Föten mit Behinderung von der Bewegung gerne genannt werden, hinzustellen, wenn es ein gesamtgesellschaftliches Tabu bei dem Thema gibt. Es ist tatsächlich ein Problem, wenn Feministinnen sich hauptsächlich auf Selbstbestimmung und „Mein Bauch gehört mir“ berufen, ohne genauer hinzusehen. Nämlich wie es sich damit verhält, wenn man sich schon dazu entschlossen hat, ein Kind zu bekommen – und nach einer Diagnose dann die Meinung kippt. Das ist auch psychologisch schwieriger, denn dann wird aus einem gewollten ein ungewolltes werdendes Kind.

STANDARD: Aber wie kann man beide Interessen zusammenbringen?

Achtelik: Indem man deutlich macht, dass die pränatale Suche nach Behinderung problematisch und ein gesellschaftliches Problem ist. Wir müssen darüber diskutieren, warum diese Tests gemacht werden und warum es gesellschaftlich so schwierig gemacht wird, ein Kind mit Behinderung zu bekommen. Gleichzeitig muss man als Feministin aber immer sagen, dass die letzte Entscheidung bei der Frau liegen muss. Man kann niemanden dazu zwingen, ein Kind zu bekommen.

Bluttest auf Trisomien ist kein Test gegen die Angst

Der Gemeinsame Bundesausschuss wird wohl beschließen, dass die Kosten für Bluttests auf Trisomien bei bestimmten Schwangeren übernommen werden. Eine Analyse. Frankfurter Rundschau, 18.09.19

Am Donnerstag (19.9.) wird der Gemeinsame Bundesausschuss (G-BA) über die Kassenzulassung des Bluttests auf die Trisomien 13, 18 und 21 entscheiden. Nach einem Vorbericht des Magazins „Der Spiegel“ ist die Entscheidung des obersten Selbstverwaltungs-Gremiums im deutschen Gesundheitswesen bereits gefallen: Die Kosten für die Tests sollen für Schwangere bei besonderen Risiken oder zur Abklärung von Auffälligkeiten übernommen werden.

Die nichtinvasiven molekulargenetischen Tests (NIPT) werden seit 2012 auf dem deutschen Markt angeboten. Sie filtern die DNA des Fötus – oder genauer, der Plazenta – aus dem Blut der Schwangeren und können darin einige genetische Abweichungen finden, die Beeinträchtigungen verursachen. Sie stellen keine Diagnostik dar, sondern sind Hochrechnungen. Sie ersetzen also nicht die invasiven und mit einem Fehlgeburtsrisiko verbundenen Verfahren wie Fruchtwasseruntersuchungen, diese sollen zur Bestätigung bei einem positiven Ergebnis weiterhin durchgeführt werden.

Bluttest auf Trisomie – Schritt zu sozialer Gerechtigkeit

Befürworter der Kassenzulassung begrüßen die Entscheidung als Schritt zu mehr Selbstbestimmung und sozialer Gerechtigkeit, da sonst ärmere Schwangere auf die invasiven Methoden zurückgreifen müssen. Selbst die Evangelische Kirche sprach sich für die Zulassung aus. Derweilen wächst die Kritik auf verschiedenen Ebenen. Grundsätzlich wird die Kompetenz und Zuständigkeit des G-BA für diese Entscheidung in Frage gestellt. Die Aufgabe des Gremiums ist es, den Nutzen, die medizinische Notwendigkeit und Wirtschaftlichkeit von Medikamenten und medizinischen Verfahren zu bewerten, ethische und gesellschaftliche Gesichtspunkte spielen keine Rolle.

Der Vorsitzende Josef Hecken, hat selbst wiederholt betont, dass dieses Vorgehen in Bezug auf den NIPT schwierig sei und auf den Bundestag und den Ethikrat als für weitergehende Fragen zuständige Instanzen verwiesen. Der Bundestag hat mit einer zweistündigen Orientierungsdebatte im April einen Prozess begonnen, ob und wann dieser zu einer Änderung der den G-BA betreffenden Regelungen führen wird, ist jedoch offen.

Bluttest auf Trisomie – Kritiker fürchten Selektion

Die Kostenübernahme durch gesetzliche Krankenkassen erfolgt auf Grundlage von Sozialgesetzbuch V, in dem festgelegt ist, dass die vergüteten Leistungen dazu dienen sollen „die Gesundheit der Versicherten zu erhalten, wiederherzustellen oder ihren Gesundheitszustand zu bessern“. Akteure wie das Netzwerk gegen Selektion durch Pränataldiagnostik bezweifeln, dass die Bluttests diesen Kriterien gerecht werden, da eine Beeinträchtigung des Fötus die Gesundheit der werdenden Mutter nicht gefährdet.

Diese Sichtweise stellt allerdings nicht nur die Kassenfinanzierung der Bluttests, sondern auch große Teile der bisherigen Finanzierungspraxis pränataler Tests in Frage – auch die meisten Fruchtwasser- und Ultraschalluntersuchungen suchen nach Auffälligkeiten beim Fötus, die für die werdende Mutter nicht gesundheitsrelevant sind.

Die Angst der Schwangeren vor einer möglichen Behinderung des Kindes

In der Schwangerschaft gelten nicht nur Auffälligkeiten als Indikation für weitere kassenfinanzierte Untersuchungen, sondern auch die Angst der Schwangeren vor einer möglichen Behinderung. Die Idee, dass diese Sorgen durch Tests und Untersuchungen abgebaut werden können und sollen, hat seit den 1980er Jahren zu einer enormen Normalisierung und Ausweitung pränataler Diagnostik geführt. Ob diese Ängste seitdem nicht eher zu- als abgenommen haben, ist eine empirisch offene Frage.

Die Angst vor einer Behinderung des werdenden Kindes und die Sorge darum, was dies auch für das eigene Leben bedeuten könnte, ist zudem kein medizinisches, sondern ein gesellschaftliches Problem. In der Debatte des Bundestages haben viele Abgeordnete darauf hingewiesen, dass Schwangere zu Recht Angst vor einem Kind mit Behinderung hätten: Die deutsche Gesellschaft sei immer noch wenig inklusiv und die Verantwortung für ein solches Kind daher mit einem stark erhöhten bürokratischen und finanziellen Aufwand verbunden.

Familien mit Kindern, die Trisomie 21 haben, sind in Sorge

Familien mit Kindern, die das Down-Syndrom haben, kennen diese Erfahrung aus erster Hand. Viele von ihnen lehnen die Kassenzulassung ab, weil sie befürchten, dass durch eine weitere Normalisierung pränataler Diagnostik die Angst vor Behinderung verstärkt werden könnte. Dieser Sorge verliehen sie auf einer vom Elternverein Downsyndromberlin am vergangenen Sonntag organisierten Kundgebung Ausdruck.

Für die Vorstandsvorsitzende Heike Meyer-Rotsch besteht das gesellschaftliche Drama nicht in der Behinderung, sondern in einem falschen Bild von Leid und schwerem Schicksal, das die meisten Menschen und werdende Eltern mit Behinderung verbänden. Durch die Kassenzulassung der Tests werde gerade Trisomie 21 als „nicht wünschenswert“ dargestellt und die Angst vor dieser Behinderung als sinnvoll und normal bewertet. Natalie Dedreux, die mit Trisomie 21 lebt und eine Petition auf Change.org gegen die Kassenzulassung gestartet hat, sagte auf der Kundgebung, dass sie nicht in einer Welt leben wolle, in der man sich wegen der genetischen Besonderheit Down-Syndrom Sorgen machen müsse.

Bluttests auf Trisomie: Gesetzgeber muss Impulse aufnehmen

Wenn der G-BA die Tests trotz dieser Bedenken zur Kassenleistungen macht, ist es am Gesetzgeber, die Impulse aus der Orientierungsdebatte aufzunehmen. Dazu gehört eine Überprüfung der Entscheidungskompetenzen des G-BA, aber auch die Schaffung von gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Menschen mit Behinderung gut leben können und Schwangere nicht wissen, warum sie davor Angst haben sollten.

Kirsten Achtelik ist Sozialwissenschaftlerin und freie Journalistin

„Wortführer der Intoleranz bekommen Oberwasser“

Interview mit dem Autor und langjährigen Redakteur der »Krüppelzeitung«, Udo Sierck, über Bevormundung und Gewalt in der Behindertenhilfe und deutsche Exklusionsgelüste in konkret literatur 44

literatur konkret: In den letzten Jahren sind vermehrt Fälle von teilweise sehr brutalen Misshandlungen an Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Beeinträchtigungen in verschiedenen Einrichtungen der Behindertenhilfe bekanntgeworden. In Ihrem neuen Buch Macht und Gewalt zeigen Sie, dass das keineswegs Einzelfälle sind, sondern aus der inneren Logik der Einrichtungen selbst zu erklären ist. Können Sie das erläutern?

Udo Sierck: Der UN-Ausschuss, der die Umsetzung der international verpflichtenden Behindertenrechtskonvention prüft, hat Deutschland 2016 wegen mangelnder Maßnahmen zum Schutz behinderter Menschen vor Gewalt gerügt. Die Kritik zielt auf mehr als das Netz der Institutionen, Behörden, Ämter. Im Fokus sind auch Alltagssituationen der Unterstützung. Gewalt gegen behinderte Menschen äußert sich in gesellschaftlichen Verhältnissen, in institutionellen Vorgaben und Zwängen sowie in individuellen Motiven und Handlungen. Beteiligt sind Fachleute aus Medizin, Pädagogik, Psychologie oder sozialer Arbeit. Zum Thema Macht und Gewalt gehören Sprache, Blicke, Normvorstellungen, Denkmuster und Haltungen. Diese Zusammenhänge beinhalten insbesondere für Menschen mit Einschränkungen, die in Institutionen zu fremdbestimmten Objekten erniedrigt werden, die Gefahr von Übergriffen. Die gegenwärtig beliebte Floskel »Wir agieren auf Augenhöhe« entlarvt sich bei genauer Betrachtung als Verschleierung herkömmlicher Machtverhältnisse.

Sie sagen, dass die heutige Struktur der Behindertenhilfe mit wirklicher Inklusion nicht vereinbar ist. Menschen mit Beeinträchtigungen, die sich in Werkstätten in entsprechenden Räten selbst vertreten, reagierten dagegen 2018 empört auf eine Kritik der Vereinten Nationen an den segregierten Räumen für behinderte Personen. Liegen hier unterschiedliche Inklusionsdefinitionen vor, oder ist das ein tiefergehender Dissens?

Viele der Frauen und Männer, die in den Werkstätten arbeiten, werden morgens mit einem Sonderfahrdienst aus der Sonderwohneinrichtung zum Sonderarbeitsplatz gefahren, wo sie diverses Sonderpersonal besonders behandelt. Nachmittags fährt der Sonderfahrdienst sie wieder zurück in die Sonderwohneinrichtung, wo sie das Sonderpersonal empfängt. Die Träger dieser Einrichtungen verkaufen dieses geschlossene System der Aussonderung als inklusiven Akt der Fürsorge. Viele der zur Dankbarkeit erzogenen, als behindert geltenden Personen beugen sich diesen Machtverhältnissen aus Furcht davor, sonst ins soziale Nichts zu fallen. Hinzu kommt, dass sie sich nichts anderes als ihre Sonderlaufbahn vorstellen können, weil ihnen niemand eine gegenteilige Perspektive eröffnet hat. Gleichzeitig müssen manche pflegeabhängigen Personen den aufwendigen Weg der Klage gegen Sozialämter beschreiten, um der Heimeinweisung gegen ihren Willen zu begegnen. Mit Autonomie und Teilhabe hat das nichts zu tun.

Nimmt eine ablehnende Haltung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen eher zu oder ab?

Wer in Beruf oder Sport gesellschaftlich anerkannte Werte erfüllt, kann mit Varianten der Inklusion rechnen. Andererseits besteht in der Gesellschaft unausgesprochen ein Zwang zur Nichtbehinderung, der die ausgemachten Merkmalsträger auf die »andere Seite« befördert. So hat die Diskriminierung von Menschen mit Schizophrenie in den letzten Jahren zugenommen. Das Ergebnis: weniger ehrliches Mitleid, weniger Hilfsbereitschaft, dafür der Wunsch nach sozialer Distanz. Nach einer aktuellen wissenschaftlichen Studie zu sozialdarwinistischen Einstellungen und Denkmustern lehnten nur 45 Prozent der repräsentativ Befragten die Vorgabe »Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft immer der Stärkere durchsetzen« völlig ab, nur 61 Prozent fanden die Aussage »Es gibt wertvolles und unwertes Leben« grundlegend falsch.

Welche Gründe sehen Sie für diese Entwicklung?

Offensichtlich nehmen die Ausschlussideen schleichend zu, wenn die Bevölkerung mit eigenen Existenzängsten beschäftigt ist. Große Aufklärungskampagnen bewirken offenbar wenig, solange das direkte Gegenüber fehlt. Wortführer der Intoleranz bekommen Oberwasser, sie sagen jetzt, was sie denken. So monierte der saarländische AfD-Fraktionsvorsitzende Josef Dörr, dass man in Krankenhäusern Patienten mit ansteckenden und mit nichtansteckenden Krankheiten in unterschiedliche Abteilungen stecke, aber »in deutschen Schulen säßen Kinder mit Down-Syndrom«.

Was müsste passieren, um sowohl die eigentlich offensichtliche, aber in den Einrichtungen versteckte als auch die subtile Gewalt, die Menschen mit Beeinträchtigungen erfahren, zu beenden?

In den Bereichen Arbeit, Wohnen oder Freizeit weisen die deutschen Verhältnisse auf Exklusion. Dies zu benennen, statt in Sonntagsreden auf Harmonie und Selbstgefälligkeit zu setzen, wäre ein Anfang. Die Behindertenpolitik braucht, pragmatisch formuliert, grundsätzlich eine Neuausrichtung: weg von stationären Institutionen und behütender Fürsorge. Notwendig ist eine kritische Bestandsaufnahme und Analyse, warum es in Einrichtungen in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder zu Übergriffen kommt, verbunden mit der unbürokratischen Entschädigung derjenigen, die sie erleiden mussten – unabhängig von Verjährungsfristen und vom Zeitpunkt der Gewalterfahrung. Allgemein gesagt: Solange »die Behinderten« als die Anderen« identifiziert werden, sind individuelle und gesellschaftliche Macht- und Gewaltpotentiale nicht aufgelöst.

Interview: Kirsten Achtelik