Interview mit dem Autor und langjährigen Redakteur der »Krüppelzeitung«, Udo Sierck, über Bevormundung und Gewalt in der Behindertenhilfe und deutsche Exklusionsgelüste in konkret literatur 44
literatur konkret: In den letzten Jahren
sind vermehrt Fälle von teilweise sehr brutalen Misshandlungen an
Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen mit Beeinträchtigungen in
verschiedenen Einrichtungen der Behindertenhilfe bekanntgeworden. In
Ihrem neuen Buch Macht und Gewalt zeigen Sie, dass das keineswegs
Einzelfälle sind, sondern aus der inneren Logik der Einrichtungen selbst
zu erklären ist. Können Sie das erläutern?
Udo Sierck: Der UN-Ausschuss, der die Umsetzung der international
verpflichtenden Behindertenrechtskonvention prüft, hat Deutschland 2016
wegen mangelnder Maßnahmen zum Schutz behinderter Menschen vor Gewalt
gerügt. Die Kritik zielt auf mehr als das Netz der Institutionen,
Behörden, Ämter. Im Fokus sind auch Alltagssituationen der
Unterstützung. Gewalt gegen behinderte Menschen äußert sich in
gesellschaftlichen Verhältnissen, in institutionellen Vorgaben und
Zwängen sowie in individuellen Motiven und Handlungen. Beteiligt sind
Fachleute aus Medizin, Pädagogik, Psychologie oder sozialer Arbeit. Zum
Thema Macht und Gewalt gehören Sprache, Blicke, Normvorstellungen,
Denkmuster und Haltungen. Diese Zusammenhänge beinhalten insbesondere
für Menschen mit Einschränkungen, die in Institutionen zu
fremdbestimmten Objekten erniedrigt werden, die Gefahr von Übergriffen.
Die gegenwärtig beliebte Floskel »Wir agieren auf Augenhöhe« entlarvt
sich bei genauer Betrachtung als Verschleierung herkömmlicher
Machtverhältnisse.
Sie sagen, dass die heutige Struktur der Behindertenhilfe
mit wirklicher Inklusion nicht vereinbar ist. Menschen mit
Beeinträchtigungen, die sich in Werkstätten in entsprechenden Räten
selbst vertreten, reagierten dagegen 2018 empört auf eine Kritik der
Vereinten Nationen an den segregierten Räumen für behinderte Personen.
Liegen hier unterschiedliche Inklusionsdefinitionen vor, oder ist das
ein tiefergehender Dissens?
Viele der Frauen und Männer, die in den Werkstätten arbeiten, werden
morgens mit einem Sonderfahrdienst aus der Sonderwohneinrichtung zum
Sonderarbeitsplatz gefahren, wo sie diverses Sonderpersonal besonders
behandelt. Nachmittags fährt der Sonderfahrdienst sie wieder zurück in
die Sonderwohneinrichtung, wo sie das Sonderpersonal empfängt. Die
Träger dieser Einrichtungen verkaufen dieses geschlossene System der
Aussonderung als inklusiven Akt der Fürsorge. Viele der zur Dankbarkeit
erzogenen, als behindert geltenden Personen beugen sich diesen
Machtverhältnissen aus Furcht davor, sonst ins soziale Nichts zu fallen.
Hinzu kommt, dass sie sich nichts anderes als ihre Sonderlaufbahn
vorstellen können, weil ihnen niemand eine gegenteilige Perspektive
eröffnet hat. Gleichzeitig müssen manche pflegeabhängigen Personen den
aufwendigen Weg der Klage gegen Sozialämter beschreiten, um der
Heimeinweisung gegen ihren Willen zu begegnen. Mit Autonomie und
Teilhabe hat das nichts zu tun.
Nimmt eine ablehnende Haltung gegenüber Menschen mit Beeinträchtigungen eher zu oder ab?
Wer in Beruf oder Sport gesellschaftlich anerkannte Werte erfüllt,
kann mit Varianten der Inklusion rechnen. Andererseits besteht in der
Gesellschaft unausgesprochen ein Zwang zur Nichtbehinderung, der die
ausgemachten Merkmalsträger auf die »andere Seite« befördert. So hat die
Diskriminierung von Menschen mit Schizophrenie in den letzten Jahren
zugenommen. Das Ergebnis: weniger ehrliches Mitleid, weniger
Hilfsbereitschaft, dafür der Wunsch nach sozialer Distanz. Nach einer
aktuellen wissenschaftlichen Studie zu sozialdarwinistischen
Einstellungen und Denkmustern lehnten nur 45 Prozent der repräsentativ
Befragten die Vorgabe »Wie in der Natur sollte sich in der Gesellschaft
immer der Stärkere durchsetzen« völlig ab, nur 61 Prozent fanden die
Aussage »Es gibt wertvolles und unwertes Leben« grundlegend falsch.
Welche Gründe sehen Sie für diese Entwicklung?
Offensichtlich nehmen die Ausschlussideen schleichend zu, wenn die
Bevölkerung mit eigenen Existenzängsten beschäftigt ist. Große
Aufklärungskampagnen bewirken offenbar wenig, solange das direkte
Gegenüber fehlt. Wortführer der Intoleranz bekommen Oberwasser, sie
sagen jetzt, was sie denken. So monierte der saarländische
AfD-Fraktionsvorsitzende Josef Dörr, dass man in Krankenhäusern
Patienten mit ansteckenden und mit nichtansteckenden Krankheiten in
unterschiedliche Abteilungen stecke, aber »in deutschen Schulen säßen
Kinder mit Down-Syndrom«.
Was müsste passieren, um sowohl die eigentlich
offensichtliche, aber in den Einrichtungen versteckte als auch die
subtile Gewalt, die Menschen mit Beeinträchtigungen erfahren, zu
beenden?
In den Bereichen Arbeit, Wohnen oder Freizeit weisen die deutschen
Verhältnisse auf Exklusion. Dies zu benennen, statt in Sonntagsreden auf
Harmonie und Selbstgefälligkeit zu setzen, wäre ein Anfang. Die
Behindertenpolitik braucht, pragmatisch formuliert, grundsätzlich eine
Neuausrichtung: weg von stationären Institutionen und behütender
Fürsorge. Notwendig ist eine kritische Bestandsaufnahme und Analyse,
warum es in Einrichtungen in Vergangenheit und Gegenwart immer wieder zu
Übergriffen kommt, verbunden mit der unbürokratischen Entschädigung
derjenigen, die sie erleiden mussten – unabhängig von Verjährungsfristen
und vom Zeitpunkt der Gewalterfahrung. Allgemein gesagt: Solange »die
Behinderten« als die Anderen« identifiziert werden, sind individuelle
und gesellschaftliche Macht- und Gewaltpotentiale nicht aufgelöst.
Interview: Kirsten Achtelik