Video und Skript für die Rosa-Luxemburg-Stiftung Rheinland-Pfalz
Der erste Schock über die Ausbereitung des Virus Sars-CoV-2 scheint vorbei zu sein, in einem unheimlichen Tempo werden seit dem 20. April viele Beschränkungen wieder aufgehoben. Die Gefahr ist jedoch noch nicht gebannt, Expert*innen warnen vor zu schnellen und zu weitgehenden Lockerungen. Die Kontaktbeschränkungen hatten und haben vor allem ein Ziel: die schnelle Ausbreitung des Virus zu verhindern, damit die Zahl der erkrankten Menschen, die behandelt werden müssen, die Kapazitäten des Gesundheitssystems nicht übersteigt.
Was passiert, wenn das System überlastet ist, haben wir in Norditalien, in Spanien und in New York gesehen. Was passiert, wenn nicht mehr jeder Patient und jede Patientin, der oder die ein Bett auf der Intensivstation oder ein Beatmungsgerät benötigen, eins bekommen können? Die Leute werden irgendwie versorgt, liegen auf den Fluren oder kommen gar nicht erst ins Krankenhaus. Es sterben weit mehr Menschen, als wenn sie gut versorgt worden wären, und sie sterben unter erbärmlichen Bedingungen. Wenn es soweit gekommen ist, wird es sehr schwierig einen Ausbruch unter Kontrolle zu bekommen. In Italien und Spanien war wochenlang sogar spazieren gehen verboten.
Wenn es zu viele Patient*innen gibt, wie wird dann entschieden, wer ein Intensivbett bekommt oder beatmet wird? Es gibt Konzepte aus der Notfall- und Katastrophenmedizin, die hier bei Entscheidungen helfen sollen. Der Name: Triage.
Um das medizinische Personal auf eine solche Situation vorzubereiten, haben Ende März sieben medizinische Fachgesellschaften, die in der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin (DIVI) zusammengeschlossen sind, ein Papier mit Empfehlungen veröffentlicht. Es gibt mehrere Prinzipien, nach denen in einer Notsituation entschieden werden kann, wen man versorgt:
– Dringlichkeit: wer braucht die Hilfe am nötigsten?
– Priorität: Wer war zuerst da?
– Erfolgsaussicht: wer wird nach allem was wir wissen, am ehesten überleben?
– Los: man lässt den Zufall entscheiden
Das klingt alles nicht schön, man muss sich bei den Debatten über Triage allerdings immer vor Augen führen, dass das auch eine grauenvolle Situation ist: Das medizinische Personal kann nicht allen helfen. Die Person, der man nicht hilft, wird sterben. Die Person, der man hilft, wird vielleicht nicht sterben.
Ich sage das auch so deutlich, damit den Leuten, die sich das hier angucken oder durchlesen noch mal bewusst wird, wozu die ganzen unangenehmen Beschränkungen dienen sollen: Um so eine Situation zu vermeiden.
Die Divi hat sich für das Erfolgsprinzip entschieden. Vorrangig sollten die Patient*innen notfall- oder intensivmedizinisch behandelt werden, die dadurch eine „höhere Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. eine bessere Gesamtprognose (auch im weiteren Verlauf) haben.“ Ein interprofessionelles Team aus Fachärzt*innen und Pflegekräften soll nach einem medizinischen Kriterienkatalog, in den Vorerkrankungen oder der Gebrechlichkeitsgrad einfließen, transparent, nachvollziehbar und konsensual über die Zuteilung der knappen Mittel entscheiden.
Gegen diese Empfehlungen gab es heftige Proteste, vor allem aus der Behindertenbewegung, in dem Skript findet ihr Links dazu.
Auf den ersten Blick ist es wünschenswert, die knappen Ressourcen denen zu geben, die es vermutlich schaffen werden und nicht denen, die wahrscheinlich sterben.
Es gibt aber mehrere Faktoren, die dagegensprechen:
Wir wissen noch viel zu wenig über die Krankheitsverläufe, können also kaum Prognosen aufstellen.
Menschen mit Beeinträchtigungen und Vorerkrankungen sowie ältere Menschen werden nach diesem Kriterium systematisch benachteiligt. Das liegt daran, dass solche Bedingungen statistisch dazu führen, dass diese Menschen schlechtere Überlebenschancen haben. Zwar sagen Vorerkrankungen und Beeinträchtigungen nichts über die individuelle Überlebensfähigkeit einer bestimmten Person aus, dass diese Person zu einer Gruppe gehört, die statistisch geringere Überlebenswahrscheinlichkeit hat, sorgt aber nach diesem Triage-Prinzip dafür, dass sie nicht priorisiert würde – also, um es deutlich zu sagen, dass sie tatsächlich nicht überlebt, weil sie nicht die Hilfe bekommt, die sie braucht.
Ein Beispiel: Ein Kriterium der Divi für eine geringe Erfolgsaussicht, das zur Depriorisierung führt, ist die Multimorbidität. Das bedeutet, es liegen mehr als zwei Vorerkrankungen zusätzlich zu Covid-19 vor. Das ist bei älteren Menschen ziemlich häufig der Fall. Die Vorerkrankungen müssen nicht relevant sein in der aktuellen lebensbedrohlichen Situation, nach den Divi-Kriterien verschlechtern sie dennoch die Überlebenswahrscheinlichkeit der oder des Betroffenen – aufgrund der Depriorisierung, nicht aufgrund der Vorerkrankungen.
Menschen mit Behinderung, die ihre bei der Geburt prognostizierte Lebenserwartung oft um das Mehrfache überleben, und bei diversen Erkrankungen schon mehrmals tot gesagt waren, fürchten sich zu Recht davor, dass solche Prognosen zur Grundlage von Behandlungsentscheidungen werden.
Den vermeintlichen Risikogruppen wird nahegelegt, sich doch selbst um ihre Gesundheit und ihr Überleben zu kümmern: Sei es sei durch die Verharmlosung der Pandemie, sei es durch Aussagen wie die von Tübingens Oberbürgermeister Boris Palmer, der davor warnte, Menschen zu retten, „die in einen halben Jahr sowieso tot wären“, oder sei es von der offensichtlichen Unmöglichkeit, nach all den Lockerungen der vergangenen Tage im öffentlichen Raum überhaupt noch einen relevanten Abstand von anderen Menschen einzuhalten.
Die gesellschaftliche Solidarität, von der in letzter Zeit so viel die Rede war, muss auf vielen Ebenen eine praktische werden: Diskriminierende und behindertenfeindliche Kriterien können nicht die Grundlage für Entscheidungen über Leben und Tod sein.