In Lateinamerika lassen immer mehr Schwangere präventive Abbrüche durchführen – aus Angst vor Beeinträchtigung des Kindes durch das Zika-Virus. Eine Langfassung des Beitrags von Kirsten Achtelik aus konkret 6/16
Das brasilianische Gesundheitsministerium hatte bereits im November 2015 den nationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen, da es die Zunahme von Schädelfehlbildungen bei Neugeborenen mit einer Infektion durch das Zika-Virus in Zusammenhang brachte. Im Februar zog die Weltgesundheitsbehörde (WHO) nach und rief einen internationalen Gesundheitsnotstand aus. Dieses Instrument, durch das Staaten außerhalb der betroffenen Gebiete aufgefordert werden, Maßnahmen gegen die Ausbreitung des Erregers zu unterstützen, hatte sie zuletzt 2014 wegen der Ebola-Epidemie im westlichen Afrika genutzt.
Zika ist allerdings weit weniger gefährlich als Ebola: Es führt bei nur etwa 20 Prozent der erwachsenen Infizierten überhaupt zu Symptomen wie Fieber, Gelenkschmerzen oder Ausschlag, die einer leichten Grippe ähneln und normalerweise nach wenigen Tagen vollständig abklingen. Das Virus, das vor dem jetzigen Ausbruch als harmlos galt, wird vor allem von der Stechmücke Aedes aegypti übertragen, kann aber auch durch ungeschützten Geschlechtsverkehr weitergegeben werden. Als harmlos gilt es nun spätestens seit der WHO-Warnung nicht mehr, vielmehr häufen sich Hinweise, dass das Virus neben Mikrozephalie und andere Schädigungen des Gehirns bei Neugeborenen auch das Auftreten des Guillain-Barré-Syndroms (GBS) fördert. GBS ist eine seltene Immunerkrankung, die zu schweren Nervenschäden mit fast vollständiger Lähmung führen kann und intensivmedizinisch behandelt werden muss. Eine Zunahme des Syndroms ist bereits in 13 Ländern im Zusammenhang mit Zika beobachtet worden. Außerdem wird angenommen, dass das Virus in seltenen Fällen mit schweren neurologischen Folgeschäden wie Entzündungen des Rückenmarks und der Hirnhaut in Zusammenhang stehen kann.
Seit dem vergangenen Jahr hat sich das Virus in 42 Länder ausgebreitet. Mikrozephalie und andere schwere neurologische Abweichungen wurden im Zusammenhang mit Zika bisher in sechs Ländern bestätigt: Brasilien, Kap Verde, Kolumbien, Französisch-Polynesien, Martinique und Panama. Von den in Brasilien gemeldeten 7.150 Mikrozephalie-Verdachtsfällen konnten bisher 1.168 verifiziert werden, während 2.241 sich nicht bestätigten. In 192 der bestätigten Fälle konnte der Zika-Virus im Labor nachgewiesen werden. In der Presse ist allerdings häufig nur von den Verdachtsfällen zu lesen, was die internationale Besorgnis unnötig anfacht. In den anderen Ländern liegt die Zahl der Fälle, in denen eine bestätigte Mikrozephalie mit Zika in Verbindung gebracht werden konnte, unter zehn.
Über den Zusammenhang zwischen der von Mücken übertragenen Zika-Infektion und der Zunahme neurologischer Einschränkungen herrscht mittlerweile laut WHO wissenschaftlicher Konsens. Bei einer ersten Kohortenstudie in Brasilien wiesen 29 Prozent der Babys von Zika-infizierten Schwangeren Auffälligkeiten wie Wachstumsstörungen, zu kleine Köpfe und Fehlbildungen im Nervensystem auf. In einer Studie über den Zika-Ausbruch auf Französisch-Polynesien (Oktober 2013 bis April 2014) ermittelten Forscher eine Wahrscheinlichkeit von einem Prozent für das Auftreten eines zu kleinen Kopfes, wenn die Zika-Infektion im ersten Drittel der Schwangerschaft erfolgt war. Im Labor infizierte neuronale Zellen, die sich normalerweise zur Großhirnrinde entwickeln, erwiesen sich als besonders empfänglich für den Virus. Die anfänglich kursierenden konkurrierenden Theorien – etwa über den Zusammenhang mit einer Impfkombination, mit der Freisetzung genveränderter Mücken zur Bekämpfung von Dengue-Fieber oder mit dem Insektizid Pyriproxyfen – gelten als widerlegt.
Als Mikrozephalie wird ein Kopfumfang bezeichnet, der für das jeweilige Alter, Geschlecht und die Ethnie geringer ist als der Durchschnitt. Der kleine Kopf wird mit verschiedenen anderen Phänomenen assoziiert: zu kleine Gehirne, Unterentwicklung bestimmter Gehirnregionen und daraus folgende neurologische Probleme. Manche Forscher gehen mittlerweile davon aus, dass die mit dem Zika-Virus assoziierte Mikrozephalie zu den schwereren Ausprägungen dieser Behinderung führt. Da eine Kombination der gleichen Begleiterscheinungen häufig auftritt, gehen sie von der Existenz eines „Zika-Syndroms“ aus. Demnach geht die Infektion mit bestimmten typischen Anomalien der Gehirnentwicklung, Auffälligkeiten bei der Entwicklung von Ohren und Augen und Auswirkungen auf die Gliedmaßen wie Gelenksteife und Klumpfuß einher. Allerdings gibt es keine Schätzungen zum Ausmaß oder zur Wahrscheinlichkeit des Auftretens eines solchen Syndroms. Gegen die Reduzierung von Mikrozephalie als unbedingt zu vermeidendes Leiden hat sich die selbst betroffene brasilianische Journalistin Ana Carolina Caceres ausgesprochen. Sie setzt sich für eine veränderte Wahrnehmung des Phänomens, eine unaufgeregte Debatte und den Ausbau der öffentlichen Gesundheitsfürsorge für betroffene Kinder ein.
Die Kopfgröße kann im Ultraschall halbwegs zuverlässig frühestens gegen Ende des zweiten Schwangerschaftsdrittels festgestellt werden. In begründeten Verdachtsfällen empfiehlt die WHO die Entnahme und Untersuchung von Fruchtwasser, obwohl bisher unklar ist, ob sich der Virus darin überhaupt nachweisen lässt. Ob ein solcher Nachweis wiederum weitergehende Schlüsse über eine mögliche Beeinträchtigung des Fötus zuließe, ist ebenso offen. Bei guter medizinischer Versorgung gelten Frühgeburten ab der 24. Woche als überlebensfähig. Selbst wenn er gelänge, wäre ein pränataler Nachweis der Behinderung erst nach diesem Zeitpunkt möglich. Die WHO weist zudem darauf hin, dass eine wirkliche Diagnose und eine Einschätzung zur Schwere der Beeinträchtigung erst nach einer längeren Beobachtung des geborenen Babys möglich sind.
Die WHO empfiehlt, Frauen, die nach der Bestätigung eines solchen Verdachts die Schwangerschaft abbrechen wollen, mit den akkuraten Informationen über ihre gesetzeskonformen Optionen zu versorgen. In den meisten vom Virus betroffenen Ländern sieht diese Information allerdings so aus: Abtreibung ist nicht zulässig. Lateinamerika zählt zu den Regionen mit den rigidesten Abtreibungsgesetzen weltweit. Oft sind Abbrüche nur bei einer medizinischen Gefahr für das Leben der Schwangeren legal. Im vom Zika-Virus betroffenen El Salvador sind Schwangerschaftsabbrüche in keinem Fall rechtmäßig. Dort sitzen zur Zeit 16 Frauen mit Haftstrafen bis zu 30 Jahren im Gefängnis, die lediglich Fehlgeburten hatten. Selbst wo Abbrüche aus embryopathischen Gründen gesetzlich erlaubt sind, gilt dies nicht für späte Abtreibungen. Folglich sind in diesen Ländern illegale Abtreibungen weit verbreitet. Die Gesamtzahl der in Lateinamerika jährlich durchgeführten Abtreibungen wird auf vier Millionen geschätzt, davon werden nach einer Studie des Guttmacher Institutes mehr als 95 Prozent unter unsicheren Bedingungen durchgeführt. Die WHO geht von zirka 2.000 Todesfällen im Jahr aufgrund von irregulären Abtreibungen in Lateinamerika und der Karibik aus.
Da späte Abtreibungen gefährlicher als frühe sind und unter illegalen Bedingungen niemand bereits von der Schwangerschaft informiert gewesen sein darf, lassen die Schwangeren zunehmend sogenannte präventive Abbrüche durchführen. Schwangere, die lediglich eine Zika-Ansteckung bzw. eine daraus resultierende Beeinträchtigung des werdenden Kindes fürchten, lassen vermehrt Abbrüche vornehmen, wie brasilianische Gynäkologen berichten. Die niederländische Frauengesundheitsorganisation „Women on Web“ versendet weltweit Abtreibungspillen in Länder, in denen Schwangerschaftsabbrüche illegal sind. Für Frauen in Regionen, die vom aktuellen Zika-Ausbruch betroffen sind, bieten sie diesen Service kostenlos an, wenn die Frauen einen Beleg über ihre Infektion einsenden. Die NGO beklagt allerdings, dass ihre Pakete von den brasilianischen Behörden abgefangen würden.
Doch selbst wenn man präventive Abbrüche für eine gute Lösung hält, sind sie bei Zika nur schwer praktikabel. Es gibt keinen einfachen, eindeutigen Test, die Infektion muss genetisch und damit teuer im Labor nachgewiesen werden. Wenn das Medikament bis zur neunten Schwangerschaftswoche eingenommen wird, hat es eine Erfolgsquote von 97 Prozent. Die Verschickung des Medikamentes aus den Niederlanden kann allerdings bis zu fünf Wochen dauern. Außerdem: Da die Symptome sehr mild sind, besteht die große Gefahr, dass Schwangere jedes Jucken als Infektionsanzeichen deuten. Wenn zudem nur 20 Prozent aller Infizierten überhaupt Symptome haben, kann eine weitgehende Sicherheit, kein Kind mit Mikrozephalie zu bekommen, nur durch den Abbruch jeder Schwangerschaft erreicht werden. So zu verfahren wäre ein nicht weniger problematischer Vorschlag als die tatsächliche Empfehlung mehrerer lateinamerikanischer Regierungen, Schwangerschaften während des Ausbruchs gänzlich zu vermeiden. Sie führte zu heftigen Protesten von Feministinnen und der Forderung nach der Legalisierung von Abtreibungen im allgemeinen und bei fötalen Fehlbildungen im besonderen.
Aus feministischer Sicht ist eine Aufhebung der radikalen Abtreibungsverbote in Lateinamerika dringend zu fordern. Frauen, die keine Kinder oder nicht noch mehr haben wollen, sollten nicht dazu gezwungen werden. Es ist allerdings nicht akzeptabel, mit dem Virus und seinen möglichen Folgen Politik zu machen: Frühe, präventive Abbrüche nur aus Angst vor einer Behinderung geradezu als Lösung zu bewerben schürt die Angst vor einem nicht den Normen entsprechenden Kind und verstärkt die Wahrnehmung von Behinderung als Problem. Die Freigabe von Abbrüchen bei festgestellter Behinderung zu fordern, definiert das künftige Kind als außerordentliche und unzumutbare Belastung der Frau. Dies verstärkt einen ableistischen und behindertenfeindlichen Diskurs, der im individuellen Behinderten nur die Belastung sieht, statt die gesellschaftlich-behindernden Bedingungen in den Blick zu nehmen.