In: 242, August 2017, S. 41
Anhand erstmals zugänglichen Quellenmaterials (Patient_innenakten, Gutachten und Briefverkehr der Leiterin Marianne Stoeckenius) analysiert Schenk die Arbeit der 1967 gegründeten Humangenetischen Beratungsstelle in Hamburg. Stoeckenius empfahl häufig die Heimunterbringung und Sterilisierung vor allem von Mädchen und jungen Frauen mit „geistiger Behinderung“. In ihrer Doktorarbeit arbeitet Schenk die darin sichtbaren eugenischen Traditionen nach 1945 und ihre Verbindung mit neueren medizinischen Möglichkeiten zur Prognose von Behinderungen detailliert heraus. So kann sie zeigen, dass die autoritären Praktiken in der Beratung keine Überbleibsel der alten Eugenik waren, sondern in Wechselwirkung mit den zeitgenössischen liberalen Diskursen legitimiert wurden.
Ein großes Manko hat diese Monografie: Die Analyse der Rolle der zeitgenössischen radikalen Behindertenbewegung ist von Abgrenzungsbemühungen geprägt. Dabei hat die Hamburger Krüppelgruppe durch die Auswertung gestohlener Dokumente in dem Buch „Die Wohltätermafia“ einen bedeutenden Anteil an der Aufdeckung der menschenrechtsverletzenden Praktiken in (nicht nur) der Hamburger Beratungsstelle. Schenk erwähnt dies zwar – sie wertet diesen Anteil jedoch systematisch ab, kennzeichnet den Bezug auf die NS-Medizin als übertrieben und illegitim, häufig schreibt sie von Skandalisierung und Instrumentalisierung der NS-„Euthanasie“. Eine Anerkennung der Bewegung hätte ihre eigene Forschungsleistung nicht geschmälert, dieser Umgang jedoch schon.
➤ Britta-Marie Schenk: Behinderung verhindern. Humangenetische Beratungspraxis in der Bundesrepublik Deutschland (1960er bis 1990er Jahre), Campus (2016), 428 Seiten, 49 Euro, ISBN 978-3-593-50533-6.