Auch auf der dritten Pride-Parade in Berlin Mitte Juli demonstrierten Menschen mit psychiatrischer Diagnose und mit Behinderung für mehr Selbstbestimmung. Deutlich und laut kritisiert wurde diesmal die deutsche Inklusionspolitik. (in GID 231, August 2015 S. 37 – 38, dort auch Anmerkungen und Belege)
Unter dem Motto „Party statt Pathologisierung!“ fand am 11. Juli in Berlin zum dritten Mal die „Behindert und verrückt feiern“-Parade statt. 2.000 Menschen mit psychiatrischer Diagnose und Behinderung sowie deren UnterstützerInnen liefen, humpelten und rollten vom Neuköllner Hermannplatz zum Kottbusser Tor in Kreuzberg.
Die Parade war in diesem Jahr deutlich politischer. Auch wurden konkrete Forderungen erhoben, was in den Vorjahren eher vermieden worden war. Schon im Aufruf wurde das „Inklusions-Fallerifallera“ kritisiert, mit dem in der Politik zwar gern und viel über Inklusion gesprochen, aber kaum etwas getan werde. Die Pride-Parade machte sich dabei die Kritik des UN-Fachausschusses für die Rechte von Menschen mit Behinderungen an der Umsetzung der UN-Behindertenrechtskonvention (UN-BRK) zu eigen. Dieser Ausschuss hatte Deutschland im April eine Rüge erteilt: Sechs Jahre nach dem Inkrafttreten der Konvention würden Behinderte weiterhin systematisch daran gehindert, in eigenen Wohnungen zu wohnen. Kinder mit Auffälligkeiten würden mehrheitlich abgesondert beschult und Erwachsenen kaum Zugang zum ersten Arbeitsmarkt ermöglicht.
Auch die Zwangsunterbringung in Psychiatrien war vom Ausschuss kritisiert worden. Die Praxis, Menschen gegen ihren Willen festzuhalten und zu behandeln, gilt als Folter. Eine Psychiatrieerfahrene kritisierte in ihrem Redebeitrag den Anstieg unfreiwilliger Einweisungen in Deutschland: Waren es im Jahr 2000 noch rund 92.000 Menschen, stieg ihre Zahl im Jahr 2011 auf 135.000.
Im Geist der Krüppelbewegung
Die zentrale Forderung der Demonstrierenden knüpfte an die alte Parole der Krüppelbewegung an: „Nichts über uns ohne uns“. Es wurde darauf hingewiesen, dass die Betroffenen von Diskriminierung und Ausgrenzung über ihre eigenen Angelegenheiten selbst entscheiden können müssten. Es gab aber auch sehr konkrete Forderungen, wie etwa nach einer Gleichbehandlung bei der Opferentschädigung von Menschen, die als Kinder und Jugendliche wegen einer Behinderung oder einer psychiatrischen Diagnose in einem Heim lebten. Diese Opfergruppe ist bisher von den Entschädigungsverhandlungen für Heimkinder ausgenommen.
Zum Abschluss der Demonstration wurde die „glitzernde Krücke“ verliehen, mit der Vereine, Unternehmen oder Institutionen ausgezeichnet werden sollen, die sich in der Auseinandersetzung mit Behinderung oder Verrücktheit besonders negativ hervorgetan haben. Den dritten Platz belegte der Bundestag für den Ausschluss der Beschäftigten in Behindertenwerkstätten vom Mindestlohn. In den Werkstätten verdienen die Beschäftigten gerade mal 1,50 Euro pro Stunde und haben darüber hinaus auch keine Arbeitnehmerrechte. Auf den zweiten Platz kam die Bundesregierung für ihre bislang mangelhafte Umsetzung der UN-BRK.
Ein aktuelles Thema, das aber zugleich ein Dauerbrenner in der Behindertenbewegung ist, schaffte es auf den ersten Platz: Die glitzernde Krücke ging an die Urania für die Verleihung des „Peter-Singer-Preises für Strategien zur Tierleidminderung“ an Peter Singer im Mai. Als „anerkannter und beliebter Veranstaltungsort“ habe die Urania dem Euthanasie-Befürworter ein Forum geboten, so die Laudatorinnen. Der Bioethiker und Tierrechtler Singer ist dafür bekannt, das Lebensrecht behinderter Menschen einschränken zu wollen. Die Urania hatte nicht nur als Veranstaltungsort für die Preisverleihung gedient, sondern auch erhebliche Verantwortung für einen störungsfreien Ablauf der Veranstaltung übernommen.
Am Samstag fand auch die letzte Etappe des deutschlandweiten „Inklusionsfackellaufs“ von Potsdam nach Berlin statt. Dieser Aktionstag „Inklusion und Diversity“ wurde am Potsdamer Platz gefeiert. Schirmherrin der Aktion ist Verena Bentele, die Behindertenbeauftragte der Bundesregierung. Nun soll die Fackel nach Rom gebracht und vom Papst gesegnet werden. Das dürfte wohl genau die Art „Inklusions-Fallerifallera“ sein, die auf der Kreuzberger Parade kritisiert wurde.