Bei der Arbeit am GID-Schwerpunkt stießen Kirsten Achtelik (KA) und Uta Wagenmann (UW) auf einige Fragen zu den Funktionen der Beratung bei Gen- und Pränataldiagnostik. Ihre Diskussion haben sie für den GID schriftlich zusammengefasst. (in GID 2 35, April 2016 S. 20 – 21)
UW: Du setzt dich in deinem Buch Selbstbestimmte Norm auch mit der Beratung im Rahmen der Pränataldiagnostik auseinander. Dabei bezeichnest du die informierte Entscheidung als „heilige Kuh“, die entmystifiziert werden müsse. Was meinst du damit?
KA: Ich meine damit, dass die „informierte Entscheidung“ einer Schwangeren behandelt wird, als sei sie das eigentliche Ziel des ganzen Diagnose- und Beratungsprozesses und nicht die Vermeidung behinderter Kinder. Mit dem beinah sakralen Dreiklang „wohlüberlegt, individuell und selbstbestimmt“ wird die Entscheidung zu einem gesellschaftlich-politisch neutralen Akt, dessen Schwere damit Rechnung getragen wird, dass er beratend begleitet wird. So wird die Entscheidung und erst recht der ganze diagnostische Weg dahin gegen jede Kritik abgeschirmt. Dabei ist doch genau das ein massives Problem, der einzelnen Schwangeren die Entscheidung aufzubürden, ob sie sich zutraut, die gesellschaftliche Behindertenfeindlichkeit in ihr Leben zu lassen. Und wenn wir uns auf die Forderung nach einem ja nur individuell umzusetzenden Recht auf Nichtwissen konzentrieren, tragen wir als Kritikerinnen von Pränataldiagnostik auch noch zu dieser Individualisierung bei.
UW: Aber das Recht auf eine eigene Entscheidung ist doch erkämpft worden! Historisch ging es dabei nicht um Individualisierung, sondern vielmehr darum, die Deutungs- und Entscheidungsmacht von Ärzten zu brechen, uns von der paternalistischen Medizin und deren Übergriffen zu befreien.
KA: Klar, da haben wir ein ganz ähnliches Problem wie mit dem Recht auf Selbstbestimmung. Sicher ist es wichtig, darauf bestehen zu können, dass jeder Mensch über den eigenen Körper selbst entscheiden kann und nicht jemand anderes. Wenn dabei aber die Gesellschaftskritik verschwindet und nur noch eine überhöhte individuelle Entscheidung übrigbleibt, die zudem als einzige Form der Regulierung herhalten soll, dann würde ich schon sagen, dass ein emanzipatorisches in ein affirmatives Konzept umgeschlagen ist.
UW: Das ist wahr. Dennoch können wir zum Beispiel auf das Recht auf Nichtwissen nicht verzichten, weil es oft die einzige Möglichkeit bietet, sich einem bestimmten Wissen zu entziehen.
KA: Nee, verzichten will ich ja auch nicht darauf. Aber die Entwicklung problematisieren, das will ich ganz bestimmt. Ein Problem an der Idee eines Rechts auf Nichtwissen ist ja: Wie setze ich das denn um? Das funktioniert doch eigentlich nur, wenn ich mich zuvor schon gut informiert habe: Ich muss wissen und verstanden haben, was es überhaupt zu entscheiden gibt und was jeweils die möglichen Alternativen sind, um eine „informierte Entscheidung“ zu treffen. Aber was, wenn ich das schon gar nicht wissen will? Diese Option ist in dem Konzept nicht vorgesehen.
UW: Das ist ein klassisches Dilemma, ja, da stimme ich dir zu. Ich halte es dennoch für falsch, die Kritik an der informierten Entscheidung und am Recht auf Nichtwissen ausgerechnet jetzt so scharf zu formulieren, weil die derzeit in Gefahr sind, zum Beispiel durch die Anwendung von Ganzgenomanalysen in der Diagnostik. Dabei gibt es regelmäßig Zusatzbefunde, nach denen nicht gesucht worden ist. Weil es sehr viele Möglichkeiten von Zusatzbefunden gibt, über die vor einer Genomanalyse nicht in ihrer Gesamtheit informiert werden kann, kommt eine gewisse paternalistische Haltung wieder auf: Die Deutsche Gesellschaft für Humangenetik beispielsweise findet, dass die behandelnden ÄrztInnen darüber entscheiden sollen, welche Zusatzbefunde mitgeteilt werden. Da ist das Recht auf Nichtwissen ein wichtiges Abwehrrecht – denn Menschen müssen sich vor Wissen schützen können, gerade vor Informationen über Mutationen oder Anlageträgerschaften!
KA: Aber wann ist der richtige Zeitpunkt für so eine Kritik? In den verschiedenen Feldern sind die Probleme eben auch unterschiedlich gelagert. Wenn mir in Diskussionen um Pränataldiagnostik immer wieder die informierte Entscheidung nach umfassender Beratung als Lösung präsentiert wird, muss ich darauf klar antworten, dass das nicht wirklich hilft – weil es ein gesellschaftliches Problem ist. Da können Gendiagnostik- und Schwangerschaftskonfliktgesetz noch so sehr die informierte Entscheidung und das Recht auf Nichtwissen hochhalten, das funktioniert so nicht, denn für beides sind Informationen Voraussetzung, die Nichtwissen ausschließen und überhaupt erst eine Entscheidungssituation schaffen. Die selbstbestimmte, informierte Entscheidung ist – jedenfalls in der Pränataldiagnostik – nicht die Lösung, sondern Teil des Problems.
UW: Ja, das sehe ich auch so. Wenn überhaupt, dann müsste sehr früh grundsätzlich geklärt werden, welches Wissen Schwangere wozu brauchen – der Inhalt eines solchen Beratungsgesprächs wäre dann nicht von Chromosomenabberationen, Mutationen oder Stammbäumen geprägt, sondern eher von einer Auseinandersetzung mit dem Nutzen eines solchen Wissens und den damit verbundenen Erwartungen.
KA: Dagegen wird der Einwand vorgebracht, dass Schwangere häufig nur wissen wollen, dass es ihrem Kind gut geht und deshalb die PND in Anspruch nehmen. Die wollen sich dann auch nicht damit beschäftigen, auf was sie sich da eigentlich einlassen. Und das müssen sie auch dürfen, man kann ja Frauen nicht zwangsberaten, sobald sie schwanger sind.
UW: Unter anderem deshalb gehört ja das Sicherheitsversprechen der PND auch in Frage gestellt. Aber zurück zu Beratung und informierter Entscheidung – wie du vorhin gesagt hast, bestehen in anderen Zusammenhängen andere Konstellationen. Nimm nur mal die prädiktiven Gentests bei Erwachsenen, die Aussagen über künftige Erkrankungen beziehungsweise -risiken machen. Da geht es in der Beratung allein darum, was dafür spricht, den Test zu machen, und was dagegen. Ein „Recht auf Nichtwissen“ bedeutet hier einfach, einen Test auch dann nicht machen zu müssen, wenn medizinische oder genetische Gründe dafür sprechen.
KA: Klar, das ist relativ einfach, wenn der ganze Prozess schon in dem System Genetik stattfindet. Allerdings entscheidet man ja auch hier nicht für sich alleine: Wenn es sich um vererbbare DNA-Eigenschaften handelt, sind potenziell auch Verwandte von meiner Entscheidung betroffen. Damit entstehen neue Problemkonstellationen und es gibt eine Ausweitungsdynamik. Das Problem, dass du mit der Information über Optionen der Entscheidung schon in eine bestimmte Wissensformation und Denkform reingepresst wirst, bleibt – und damit auf der Metaebene die Frage: Kann es überhaupt ein Recht auf Nichtwissen geben?
UW: Rein logisch kann es das nicht. Dennoch bleibe ich dabei: Das Recht auf Nichtwissen muss verteidigt werden, und zwar gegen die Pflicht zum Wissen. Wenn wir das Wissen-Wollen als Standard akzeptieren, wird es zum Wissen-Müssen. Die Vorstellung von Individuen, die „ihre“ Genetik kennen und auf Basis des Wissens über riskante „Anlagen“ ihr Leben, ihre Gesundheit und nicht zuletzt ihre Fortpflanzung verantwortlich managen, ist äußerst wirkmächtig. Trotz aller Problematisierung von Eugenik und Selektion ist genetisches Wissen daher bis heute auch untrennbar mit dem Ziel verknüpft, die „Qualität“ des Nachwuchses zu beeinflussen, ob nun durch Pränatal- oder Präimplantationsdiagnostik oder zum Beispiel durch die Feststellung von Anlageträgerschaften. Dem kann im Grunde nur das Recht auf Nichtwissen entgegengehalten werden – damit das Riskante, das nicht Planbare, das Uneffektive des Lebens zumindest als Idee erhalten bleibt.
KA: Na ja, grundsätzlich sollten wir dem natürlich die Notwendigkeit entgegenhalten, die Gesellschaft so zu ändern, dass niemand mehr das Gefühl haben muss, eine Behinderung wäre – über die konkreten körperlichen Beeinträchtigungen hinaus – ein Problem. Solange das noch nicht so ist, verteidige ich gerne auch das Recht auf Nichtwissen gegen eine Pflicht zum Wissen. Trotzdem frage ich mich, wie dieses Recht konkret garantiert werden kann – wie ein Entkommen aus der Wissensformation Genetik aussehen könnte.
UW: Das ist alles andere als einfach, glaube ich. Damit in der Medizin und insbesondere in der Pränataldiagnostik Menschen regelmäßig und ohne Probleme vor wie auch nach einer Beratung sagen können: Ich will’s nicht wissen – dafür muss viel passieren. Denn hinter dem Wissen-Sollen und Wissen-Müssen stehen komplexe Ökonomien – die Ängste von ÄrztInnen vor Fehlern und Haftpflichten zum Beispiel in ihrer Verknüpfung mit wirtschaftlichen Interessen. Oder die Erwartungen von Schwangeren in ihrer Verknüpfung mit gesellschaftlichen Ansprüchen – das ist wirklich vielschichtig. Alle diese Ebenen haben aber eine gemeinsame Voraussetzung: Die Vorstellung, dass Wissen die allumfassende Kontrolle von Leben und Zukunft ermöglicht. Deshalb müssen wir immer wieder klar machen, dass eine solche Kontrolle nicht möglich ist. Und vor allem, dass keine Gesellschaft sie anstreben sollte.