Der Gewalt in staatlichen und kirchlichen Heimen in der Bundesrepublik und der DDR waren auch behinderte und psychiatrisierte Kinder und Jugendliche ausgesetzt. Ihnen soll ab dem kommenden Jahr finanzielle Hilfe zukommen – wenn sie ihr Leid ordnungsgemäß nachweisen. (in: Jungle World Nr. 49, 3. Dezember 2015)
von Kirsten Achtelik
Mitte November einigten sich die Arbeits- und Sozialminister der Länder auf die Einrichtung einer Stiftung zur Entschädigung behinderter und psychiatrisierter Heimkinder. Nichtbehinderte ehemalige Heimkinder erhalten bereits seit 2012 Zahlungen aus einem Fonds. Dem Beschluss zufolge sollen wahrscheinlich ab 2016 Hilfsgelder an Menschen ausgezahlt werden, die als Kinder und Jugendliche in der Bundesrepublik zwischen 1949 und 1975 und in der DDR zwischen 1949 und 1990 in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder stationären psychiatrischen Einrichtungen »Unrecht und Leid« erfahren haben. Eine Stiftung mit dem Namen »Anerkennung und Hilfe« soll die Anträge und Auszahlungen verwalten.
Die vor dieser Entscheidung erstellte Machbarkeitsstudie geht von ungefähr 480 000 Kindern und Jugendliche in den entsprechenden Einrichtungen aus. Wie aus dem Gutachten hervorgeht, haben von diesen Heranwachsenden 80 400 Kinder und Jugendliche Unrecht und Leid in der Form erfahren, dass sie antragsberechtigt sind – sofern sie noch leben. Es wird allerdings erwartet, dass von den Berechtigten nur zwischen drei und zehn Prozent einen Antrag stellen werden.
Trotzdem betrachtet Volker van der Locht, Redakteur des Newsletter Behindertenpolitik, diese Ankündigung als Erfolg der jahrelangen Forderungen und Verhandlungen der Betroffenen. Die Arbeits- und Sozialminister aller Bundesländer mit Ausnahme von Bayern hatten sich noch Ende 2014 gegen einen Hilfsfonds ausgesprochen. Die Länder befürchteten wegen der Erfahrungen mit dem Fonds für die nichtbehinderten ehemaligen Heimkinder, dass bedeutend mehr Kosten als anfänglich kalkuliert entstehen könnten. Erst im Mai hatte sich eine Arbeitsgruppe aus verschiedenen Landes- und Bundesgremien und den Kirchen gebildet, die sich auf einen Vorschlag für die geplanten Auszahlungen verständigte. Die Gelder sollen wie schon beim Heimkinderfonds zu jeweils einem Drittel von Bund, Ländern und den Kirchen kommen.
Bei der in Gründung befindlichen Stiftung sind Entschädigungszahlungen nicht vorgesehen. Das Geld sei lediglich als Hilfe zur Abmilderung »heute noch andauernder Belastungen« zu verstehen, wie das Papier der Arbeitsgruppe betont. Die Hilfen sollen zudem ausschließlich zur Verbesserung eben jener Belastungen dienen, die durch die unrechtmäßige Behandlung entstanden sind.
Zudem zeichnet sich bereits ab, dass die Betroffenen etwas anderes unter Leid, Unrecht und Aufarbeitung verstehen als die Verantwortlichen. Antragsrelevant soll nur Leid sein, das nachvollziehbar geschildert werden kann und mit geeigneten Unterlagen glaubhaft belegbar ist. »Unrecht« dagegen impliziert, dass geltendes Recht gebeugt, umgangen oder missachtet wurde. Die juristische Verfolgung individuell Verantwortlicher steht jedoch nicht zur Debatte. Gegen das damals geltende Recht verstieß an sich weder die oft jahrelange stationäre Unterbringung von Kindern und Jugendlichen, noch waren die Zwangssterilisierungen rechtswidrig, die in der Bundesrepublik bis 1992 legal waren.
Es steht zu erwarten, dass nur die härtesten Fälle, in denen Traumatisierungen und Folgeschäden sich kausal auf bestimmte widerrechtliche oder außerordentlich grausame Handlungen zurückführen lassen, überhaupt von den Zahlungen profitieren können. Wahrscheinlich ist, dass Opfer der üblichen schwarzen Pädagogik jener Jahre, von Vernachlässigung, Ausgeliefertsein und Prügelstrafen, leer ausgehen werden – sonst würde es wohl teuer.
Die Höhe der geplanten Zahlungen lässt eine Opferhierarchie erkennen: Es soll eine einmalige Pauschale von 9 000 Euro ausgezahlt werden. Nichtbehinderte Heimkinder erhalten bis zu 10 000 Euro. Menschen, die in den Einrichtungen arbeiten mussten, bekämen dem aktuellen Vorhaben zufolge bis zu 5 000 Euro als Rentenersatzleistung. Beim bestehenden Heimkinderfonds beträgt sie 300 Euro – monatlich. Umgerechnet auf die monatlich gewährte Ersatzleistung gehen behinderte und psychiatrisierte ehemalige Heimkinder ab dem 17. Monat, den sie gearbeitet haben, leer aus.
Diese Ungleichbehandlung hält van der Locht für diskriminierend. Große Sorgen bereitet ihm zudem, dass viele Antragsberechtigte gar nicht von dieser neuen Möglichkeit erfahren werden. »In den Einrichtungen gibt es Leute, die da ihr ganzes Leben verbracht haben. Es ist sehr fraglich, ob sie über mögliche Zahlungen informiert werden und ihnen adäquat geholfen wird, ihre Erfahrungen so zu verarbeiten, dass sie einen Antrag stellen könnten.« Würden diese Personen nicht intensiv begleitet, drohe ihnen durch die erneute Konfrontation mit den häufig verdrängten Ereignissen eine Retraumatisierung, befürchtet der behindertenpolitisch engagierte Sozialwissenschaftler. Er kritisiert zudem die fehlende juristische Untersuchung und die ebenso wenig erfolgte Distanzierung von den Tätern, die in den Einrichtungen gearbeitet oder diese geleitet haben. »Eine strafrechtliche Verfolgung unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten würde eine große Genugtuung für viele Opfer bedeuten«, sagt er. Eine systematische Untersuchung der Gewalt in den Einrichtungen hatten Betroffene bereits im Sommer vergangenen Jahres in einer Petition an den parlamentarischen Untersuchungsausschuss gefordert, der dies jedoch ablehnte. In Blogs und Foren wurden die geplanten Zahlungen sogar als »Schweigegeld für behinderte Heimopfer« und als Skandal bezeichnet.
Die Aufarbeitung der gewalttätigen Geschichte der deutschen Heimunterbringung und die finanzielle Hilfe für ehemalige Heimkinder ließen lange auf sich warten. Erst 2012 und nach langem Zögern stellten Bund, Länder und Kirchen jeweils ein Drittel der Kosten für die drei Opfergruppen Heimkinder Ost, Heimkinder West und Betroffene sexualisierter Gewalt in Einrichtungen zur Verfügung. Die Fonds mussten mehrfach aufgestockt werden. Nichts Gutes lässt ihre Entwicklung erwarten. Viel zu bürokratisch seien die Vorgänge gewesen, was zu einer häufig sehr langen Bearbeitungsdauer von Anträgen geführt habe, kritisieren ehemalige Heimkinder. »Dass man von den Betroffenen verlangt, eine Kausalkette vom Heim bis heute herzustellen, grenzt ans Wahnhafte«, kritisierte Peter Schruth, Ombudsmann der ehemaligen Heimkinder, im Juli in der Süddeutschen Zeitung. Nun werden zwar Erleichterungen bei der Nachweisführung für die psychiatrisierten und behinderten ehemaligen Heimkinder versprochen. Aber weder auf die Kausalitäts- noch auf die Plausibilitätsprüfung soll verzichtet werden.
Erst Anfang September fand eine Demonstration ehemaliger Heimkinder vor der Landeskirche Hannovers statt. Sie forderten eine »gerechte Entschädigung, keine Almosen«, und das Zehnfache der bisher gezahlten Summen. Doch ist die Antragsfrist für die bestehenden Fonds Ende 2014 abgelaufen. Das spart Kosten. Allein in Berlin haben 630 ehemalige Heimkinder ihre Anträge zu spät gestellt.