Das Recht auf Abtreibung ist in den USA in Gefahr. Die Demokraten haben zwar die Präsidentschaftswahl gewonnen, und die Mehrheit in beiden Parlamentskammern, im wichtigen Verfassungsgericht haben die Konservativen jedoch die überwältigende Mehrheit. Was passiert, wenn das Urteil Roe vs. Wade revidiert wird?
Interview mit Jennifer Holland in der Jungle World vom 21.01.2021
Die Möglichkeit, legal abzutreiben ist in den Vereinigten Staaten in Gefahr, weil das Grundsatzurteil im Fall »Roe vs. Wade« demnächst revidiert werden könnte. Damit hatte der Oberste Gerichtshof der USA 1973 Abtreibungen entkriminalisiert, weil das Recht auf Privatsphäre auch Schwangerschaftsabbrüche einschließe. Wie kam es dazu?
Die Situation in den USA ist einzigartig. Der Föderalismus ist stark ausgeprägt, vor diesem Urteil waren Abtreibungen deshalb von den einzelnen Bundesstaaten geregelt und in den meisten verboten. Seit den sechziger Jahren gab es immer wieder Versuche, die entsprechenden Gesetze zu liberalisieren und Abtreibungen besser zugänglich zu machen. Das Urteil hat einen landesweiten Standard etabliert: Es hat das Verbot von Schwangerschaftsabbrüchen in den ersten zwölf Wochen für verfassungswidrig erklärt. Seitdem ist das Recht einer Frau auf eine Abtreibung in diesem Zeitraum eigentlich unantastbar.
Aus der Sicht der religiös-fundamentalistischen Antiabtreibungsbewegung war dieses Urteil eine Katastrophe. Was hat sie seitdem gegen das Recht auf Schwangerschaftsabbrüche unternommen?
Abtreibungsgegner haben immer wieder versucht, Einschränkungen durchzusetzen. Sie haben sich beispielsweise in den siebziger Jahren für einen Verfassungszusatz, das Human Life Amendment, stark gemacht, der Abtreibungen verbieten sollte. Nachdem das nicht funktioniert hatte, haben sie versucht, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch über Regulierungen in den Bundesstaaten zu untergraben, beispielsweise mit Vorschriften für Abtreibungskliniken, die unnötig und kaum erfüllbar sind. Zudem haben sie ganz konkret den Zugang zu Abbrüchen eingeschränkt, indem sie Kliniken blockierten. In vielen Bundesstaaten gibt es Gesetze, die Abtreibungen potentiell erschweren und die sofort in Kraft treten, wenn das Urteil Roe vs. Wade fällt. Jetzt ist ein historischer Moment, in dem die Antiabtreibungsbewegung davon ausgeht, dass dieses Urteil revidiert werden könnte – und ich befürchte, sie könnten recht behalten, vielleicht sogar schon kommenden Monat.
Im Oktober vergangenen Jahres wurde die als Abtreibungsgegnerin bekannte Amy Coney Barrett nur einen guten Monat nach dem Tod der liberalen Richterin Ruth Bader Ginsburg an den Obersten Gerichtshof berufen. Diese Ernennung war sehr umstritten. Was ist nun zu erwarten?
Es gibt jetzt am Obersten Gerichtshof eine Zweidrittelmehrheit von Richtern und Richterinnen, die von republikanischen Präsidenten ernannt wurden: sechs zu drei. Zwar ist nicht klar, ob alle von ihnen tatsächlich dafür stimmen würden, Roe vs. Wade zu revidieren. Aber sechs Konservative machen es natürlich viel wahrscheinlicher, dass dies gelingen wird. Es könnte sein, dass der Vorsitzende Richter, John Roberts, eher mit den Liberalen stimmen würde. Die entscheidende Stimme könnte dann die von Neil Gorsuch sein, und wenn an diesem konservativen Richter die linke und feministische Hoffnung hängt, dann sieht es nicht gut aus.
In der vergangenen Woche hat der Oberste Gerichtshof entschieden, dass Abtreibungstabletten nicht mehr per Post zugestellt werden dürfen, sondern in einer Apotheke abgeholt werden müssen. Das war der erste Abtreibungsfall des Gerichts seit Barretts Ernennung. Ist das ein Ausblick auf künftige Entscheidungen?
Die Abtreibungspille hat den Verteidigern und Verteidigerinnen des Rechts auf Abtreibung Hoffnung gemacht. Damit braucht eine ungewollt Schwangere keine Ärzte mehr, die einen Abbruch vornehmen. Wenn sie in einem republikanisch regierten Bundesstaat lebt, ist das eine große Erleichterung. Wenn die Pille nicht mehr verschickt werden darf, braucht man aber wieder eine Apotheke, die das Medikament bestellt.
An dem Urteil zeigt sich eine weitere Strategie der Antiabtreibungsbewegung: Sie verbreitet Lügen über die Gefährlichkeit von Abtreibungen, diese seien schädlich für die Psyche und Gesundheit von Frauen. Leider hat sich in der Bevölkerung und auch bei einigen Richtern und Richterinnen die Annahme durchgesetzt, dass Abtreibungen gefährlicher seien als viele andere medizinische Eingriffe, da war die Antiabtreibungsbewegung recht erfolgreich. Tatsächlich verursacht die Abtreibungspille im Vergleich zum Potenzmittel Viagra, das nahezu unreguliert abgegeben wird, deutlich weniger problematische Nebenwirkungen.
Donald Trump hat der »Lebensschutz«-Bewegung weitreichende Versprechungen gemacht und als US-Präsident große Unterstützung vor allem von Evangelikalen erhalten. Wie würden Sie dieses Verhältnis beschreiben?
Trump war ein ungewöhnlicher Anwalt für die Antiabtreibungsbewegung. Er hat sich selbst früher als pro choice bezeichnet. Als er im Wahlkampf 2016 versuchte, Stimmen von Abtreibungsgegnern zu gewinnen, wurde deutlich, dass er ihre Rhetorik und ihre Argumente nicht verstand. Religiöse Konservative können auch kaum mit seinem Lebenswandel einverstanden sein, er war wahrscheinlich der am wenigsten religiöse Präsident, den die USA jemals hatten. Aber weiße Evangelikale unterstützen ihn stark, weil er von Anfang an einige wichtige Vertreter der Bewegung in seine Regierung aufgenommen hat. Dass er das Glück hatte, drei neue Richter für den Obersten Gerichtshof nominieren zu können, hat ihm ihre Treue gesichert – das war der Schritt, auf den die Bewegung schon lange gewartet hatte.
Haben die Lügen vom Wahlbetrug und die Erstürmung des Kapitols daran etwas geändert?
Große Teile der »Lebensschutzbewegung« haben Trumps Behauptungen über eine Wahlfälschung unterstützt. Ich habe vergangene Woche beobachtet, wer sich wegen der Erstürmung des Kapitols von ihm abwandte, es waren nicht viele. Viele waren nach den Ereignissen vom 6. Januar überrascht über das Ausmaß der Verschwörungstheorien und diese eigene Welt voller Fehlinformationen, in der viele Rechte inzwischen zu leben scheinen. Diese Narrative sind aber nicht neu. In der »Lebensschutzbewegung« gibt es diese Ideen schon lange, beispielsweise dass Ärzte falsche Informationen verbreiten, dass Feministinnen und Homosexuelle mit ihrer Unmoral die Gesellschaft bedrohen, dass die liberalen Medien Leute von der Wahrheit abbringen würden. Wenn Trump von fake news spricht, dann baut er auf solche Glaubenssätze auf.
Man darf auch nicht überrascht davon sein, dass die Antiabtreibungsbewegung die Erstürmung des Kapitols nicht verurteilte. Die Bewegung hat schließlich ihre eigene gewalttätige Geschichte mit der Ermordung von Abtreibungsärzten, vor allem in den neunziger Jahren. Dies haben weite Teile der Bewegung damit gerechtfertigt, dass durch die Morde viele Leben gerettet worden seien.
Befürchten Sie, dass die »Lebensschutzbewegung« wieder gewalttätiger vorgehen wird, jetzt wo sie ihre Verbindung zur Zentralregierung verloren hat?
Sie ist nicht begeistert von Joe Bidens Wahlsieg und er wird unter Umständen Maßnahmen ergreifen, mit denen sie nicht glücklich sein werden. Aber die bevorstehende Entscheidung des Obersten Gerichtshofs ist derzeit am wichtigsten. Das Gericht könnte entscheiden, dass eine bundesweite Regelung gegen die Verfassung verstößt und wieder die Einzelstaaten verantwortlich werden oder dass Abtreibung an sich gegen die Verfassung verstößt, was sie überall illegal machen würde. So oder so ähnlich wird es sein; die Antiabtreibungsbewegung hat daher keinen Grund, so aggressiv vorzugehen wie in den neunziger Jahren. Sie hat vielmehr Anlass zur Hoffnung, dass 50 Jahre Arbeit jetzt Früchte tragen und sie ihrem Ziel sehr nahe kommen könnte.
Welche politischen Optionen gäbe es nach einem solchen Urteil?
Sollte das Gericht die Zuständigkeit an die Bundesstaaten zurückverweisen, werden Bundesstaaten wie Kalifornien oder New York wohl Gesetze erlassen, die ein Recht auf Schwangerschaftsabbrüche garantieren. Diese könnten sogar besser werden als die bisherige Regelung. Allerdings dürfte es auch viele Staaten geben, in denen Abtreibungen vollständig verboten werden. Die jetzige Situation, in der die Frage, ob eine Person abtreiben darf, davon abhängt, wo sie lebt, wie viel Geld sie hat und ob sie reisen kann, würde extrem verschärft. Das ist aber eher die optimistische Variante. Wenn das Gericht befindet, dass Abbrüche gegen die Verfassung verstoßen, wird es natürlich noch schlimmer. Ungewollt Schwangere müssten dann nach Mexiko oder Kanada ausweichen – und wer wird das schon können?
Es ist schwer, sich vorzustellen, was eine demokratische Regierung gegen ein solches Gerichtsurteil tun könnte. Im Oktober vergangenen Jahres hat Biden angekündigt, das Recht auf Abtreibung gesetzlich festzuschreiben, sollte Roe vs. Wade revidiert werden. Was das konkret bedeuten könnte, blieb aber vage. Und das ist auch nur dann eine Möglichkeit, wenn das Gericht Abtreibungen nicht für verfassungswidrig erklärt. Falls das eintritt, bräuchte es einen Verfassungszusatz, um Abbrüche wieder zu legalisieren, und ich sehe nicht, woher die Demokraten die dafür erforderlichen Zweidrittelmehrheiten bekommen sollten.
Im katholisch geprägten Argentinien wurden Ende vorigen Jahres die strengen Abtreibungsgesetze liberalisiert und der Schwangerschaftsabbruch bis zur 14. Woche legalisiert. Wird das Einfluss auf die Diskussion in den bald demokratisch regierten Vereinigten Staaten haben?
Nach Roe vs. Wade haben Feministinnen sich ein wenig auf dem Urteil ausgeruht. Politische Bewegungen in den USA haben sich oft als Vorreiter gesehen, die Bewegungen in anderen Ländern helfen können, wie Missionare. Es könnte interessant sein, wenn stattdessen Impulse aus dem Süden aufgenommen würden, wenn Ideen und Organisationsweisen aus anderen Ländern hier mehr diskutiert würden. Jede Entscheidung gegen Roe vs. Wade wird wohl eine große feministische Bewegung auslösen und auch Menschen mobilisieren, die bisher einfach davon ausgehen, dass ungewollt Schwangere die Möglichkeit zu einer Abtreibung haben sollten. Das könnte eine ziemlich bedeutende, wütende Bewegung werden.