Damit die Infrastruktur nicht zusammenbricht, ist plötzlich für alle wichtig, wie der Einzelne sich verhält. Das müssen viele erst wieder lernen. Essay in der taz vom 25.12.2021
Zwar sind sich Expert*innen und Politiker*innen noch uneinig, wann und ob ein Lockdown kommen wird und wie er genau aussehen soll. Mit der sich schnell ausbreitenden Omikron-Variante steht aber bereits die fünfte Welle der Covidpandemie bevor, noch ehe die vierte Welle abgeklungen ist.
Die am vergangenen Sonntag veröffentlichte Stellungnahme des Expert*innenrats der Bundesregierung zu den Konsequenzen der Omikron-Welle zeichnete ein düsteres Bild, das in seiner Drastik deutlich über abgesagte Weihnachtsfeiern, geschlossene Geschäfte und volle Intensivstationen hinausgeht.
Das neu geschaffene Gremium warnte eindrücklich vor einem möglichen Zusammenbrechen der kritischen Infrastruktur, da durch die schiere Zahl der gleichzeitig erkrankten oder in Quarantäne befindlichen Menschen wichtige gesellschaftliche Funktionen nicht mehr aufrechterhalten werden könnten. Mit kritischer Infrastruktur sind Krankenhäuser gemeint, aber auch Polizei, Feuerwehr, Rettungsdienste, Telekommunikation, Strom- und Wasserversorgung und die entsprechende Logistik.
Die SPD-Ministerpräsidentin von Rheinland-Pfalz, Malu Dreyer, sprach am Donnerstag sogar davon, die Quarantäneverordnung zu ändern, „so dass Menschen in der kritischen Infrastruktur, wenn sie leicht erkrankt sind, trotzdem eingesetzt werden können“.
Solche Warnungen verunsichern und machen Angst. Individuelles Risiko und gesellschaftliche Folgen abzuwägen sind keine Gedankengänge, mit denen viele Menschen vertraut sind. Dass das eigene Impf- und Sozialverhalten dazu beitragen kann, ein solches Szenario zu verhindern, ist abstrakt zwar vielleicht einsichtig, konkret aber schwierig einzuschätzen. Die Bewertung, dass Omikrom so ansteckend sei, dass sich sowieso jede*r anstecken wird, kann zu Bequemlichkeit und Fatalismus führen: Zwar möchte man einen möglichst milden Verlauf, dieser kann aber durchaus einer mittleren bis schweren Grippe ähneln. Dass es für die Aufrechterhaltung der gesellschaftlichen Logistik wichtig sein soll, dass nur eine überschaubare Menge von Leuten diese Symptome gleichzeitig haben, klingt im Globalen Norden geradezu absurd.
Wir haben uns daran gewöhnt, dass die Infrastruktur funktioniert und halten ein sehr hohes Maß an Bequemlichkeit für normal. Zudem funktioniert die Vermeidung von Worst-Case-Szenarien nicht für das körpereigene Belohnungssystem: Wenn es nicht eintritt, hat man zwar wohl alles richtig gemacht. Dies muss man sich aber aktiv bewusst machen, von selbst schüttet das Gehirn dafür keine Belohnungshormone aus, anders als wenn man sich trotz der drohenden Gefahr etwas gönnt, wie eine Reise oder ein Treffen mit Freund*innen.
Körperlichkeit wird in den westlichen Gesellschaften oft verdrängt. Zugelassen und thematisiert wird sie nur, wenn angenehme und gesellschaftlich erwünschte Gefühle und Erfahrungen damit verbunden sind, wie durch Tanzen oder Essen. Ansonsten soll der Körper halt einfach funktionieren. Unangenehme Empfindungen, die mit Krankheit und Verletzlichkeit einhergehen, sind der unerwünschte Ausnahmefall, über den man lieber nicht spricht. Die ständige Erinnerung an die eigene Verletzlichkeit ist aber seit fast zwei Jahren zum Normalfall geworden. Und statt endlich mal aufzuhören, wird alles immer noch schlimmer, nun kommt auch noch die Fragilität der gesellschaftlichen Systeme zu den Gefahren hinzu.
Der sich selbst für ein solches autonomes Individuum haltende Mensch erfährt durch die Pandemie eine umfassende Kränkung. Um die eigene Ohnmacht und Angst angesichts dieser Bedrohungen in den Griff zu bekommen, gibt es verschiedene Mechanismen, die unterschiedlich gut funktionieren. Das Anerkennen und gemeinsame Bearbeiten dieser Belastungen wären wohl langfristig am förderlichsten. Erst die Behindertenbewegung, dann auch die feministische und die queere Bewegung haben darauf aufmerksam gemacht, dass die Idee des autonomen, fähigen, selbstgenügsamen und starken Individuums für die Einzelnen und für die Gesellschaft eher schwierig als förderlich ist und dass es sinnvoller ist, Menschen als sozial und emotional bedürftige Wesen anzuerkennen.
Da vielen der Ausweg über eine solche Reflexion aber versperrt ist, üben sie sich in verschiedenen Formen der Vermeidung, am destruktivsten für sich und andere wohl momentan die „Querdenker“.
Aber auch für diejenigen, die einen realistischeren Blick auf die aktuellen Probleme haben, scheint es keine gute Zeit, der eigenen Verletzlichkeit nachzugehen. Stattdessen werden Stärke und Resilienz betont. Die Schwächeren und Empfindlicheren werden dann oft nur noch theoretisch mitgedacht. Bei manchen Menschen, die immunsupprimiert sind, schlagen beispielsweise die Impfungen nicht oder kaum an. Diesen bleibt nichts anderes übrig, als sich selbst zu isolieren, denn sie können sich nicht nur leichter anstecken, es wäre auch ein heftiger Krankheitsverlauf wahrscheinlich.
Politische Konzepte gibt es für diese Menschen nicht. Wenn sie nicht völlig auf soziale Kontakte verzichten wollen, brauchen sie Menschen um sich, die sich ebenfalls sehr zurückhalten, die sich also noch mehr einschränken als sowieso bereits nötig. Das Gleiche gilt auch für manche Menschen mit Behinderung, für die bereits eine schwere Grippe lebensbedrohlich wäre oder die in den vollen Krankenhäusern keine Chance auf die Versorgung hätten, die sie brauchen.
Statt jetzt nur zu hamstern, bevor die kritische Infrastruktur zusammenbricht, könnte man sich lieber auf einen neuerlichen Winter mit größtmöglicher Kontaktbeschränkung einstellen. Vielleicht ist eine Antwort auf die Pandemie, die sozialen Unterstützungsnetze aufzubauen, um diese Leute nicht sich selbst zu überlassen. Das könnte auch den vermeintlich Starken Hoffnung machen, dass Schwäche nicht schlimm sein muss. Die Fähigkeit, individuelles Risiko und gesellschaftliche Folgen abzuwägen, werden wir auch nach der Pandemie für die Klimakrise noch brauchen.