Als 1974 die Deutsche Krebshilfe gegründet wurde, waren die Ursachen der Krankheit weitgehend unbekannt. Seitdem ist für Betroffene viel anders. In der taz vom 5. 10. 2024
Jede Krebsbehandlung ist nur so gut, wie das Gesundheitssystem, in dem sie stattfindet. Ärzt*innen müssen mit Patient*innen über Diagnose und Therapiemöglichkeiten sprechen, nicht nur über sie. Bei der Behandlung von Krebserkrankungen hat die Deutsche Krebshilfe in den vergangenen 50 Jahren entscheidend dazu beigetragen, dass der Kontakt heute auf Augenhöhe stattfindet.
„Über Krebs wurde früher überhaupt nicht gesprochen, nicht nur von Patienten selbst, auch die Ärzte haben ja mit ihren Patienten über die Diagnose, über die Krankheit überhaupt nicht geredet“, sagt Gerd Nettekoven, Vorstandsvorsitzender der Organisation. In der vergangenen Woche feierte sie ihr 50-jähriges Bestehen.
Am 25. September 1974 gründete die Ärztin Mildred Scheel die Deutsche Krebshilfe. Spenden, Expertise und Netzwerke sollten die schlechte Versorgung der Betroffenen verbessern, die Forschung ankurbeln und die Krankheit von ihrem gesellschaftlichen Tabu befreien. Das Motto: „Helfen. Forschen. Informieren.“
Der Irrglaube, dass Krebs ansteckend sei, war weit verbreitet, die realen Ursachen für die bösartigen Zellmutationen dagegen weitgehend unbekannt. Erkrankte in der Bundesrepublik der siebziger Jahre ein Kind an Krebs, lag die Überlebenswahrscheinlichkeit bei nur 20 Prozent.
Auch deswegen waren die Ärzte mit Informationen zurückhaltend: „Sie hatten kaum Möglichkeiten, Krebspatienten adäquat zu behandeln“, erklärt Nettekoven. Auf ihren Beitrag zur Entwicklung einer eigenständige Kinderonkologie ist die Organisation stolz. „Heute können vier von fünf krebskranken Kindern und Jugendlichen geheilt werden. Das ist ein grandioser Meilenstein unserer Arbeit. Ab Ende der 1980er Jahre haben wir klinische Studien zur Wirkung von verschiedenen Therapien eben bei Kindern gefördert.“
Krebs ist mehr als nur eine Erkrankung
Wegbereiter war die Organisation auch für die psychoonkologische und die palliativmedizinische Versorgung von Betroffenen. Heute sind Psychoonkolog*innen in allen Krebszentren vor Ort, auch Angehörige können sich an sie wenden. Erst 1983 eröffnete am Kölner Universitätsklinikum die erste Palliativstation, seit 2009 gehört Palliativmedizin zum Pflichtlehr- und Prüfungsfach im Medizinstudium.
Unter dem Begriff „Krebs“ werden viele verschiedene Krankheiten zusammengefasst, je nach Auslöser der Zellmutation und nach Art des Gewebes, aus dem der erste Tumor entsteht. Ein Tumor setzt sich aus verschiedenen Zellbereichen mit unterschiedlichen Eigenschaften zusammen, die auch verschieden auf Therapien reagieren. Deswegen ist eine Zusammenarbeit mehrerer Fachrichtungen so wichtig für die optimale Einschätzung des Problems und der Entscheidung über die beste Therapie. Entschieden früher einzelne Ärzt*innen über die Behandlungsmethode, besprechen heute multidisziplinäre Tumorkonferenzen jeden neuen Fall.
Eine bessere Zusammenarbeit der verschiedenen medizinischen Disziplinen sollten auch die Comprehensive Cancer Center gewährleisten, die die Deutsche Krebshilfe vor 15 Jahren auf den Weg gebracht hat. Hier wird innovative Forschung mit der Betreuung von Patient*innen verbunden, zusammen mit den von der Deutschen Krebsgesellschaft zertifizierten Zentren ist die Versorgung bedeutend verbessert worden. Dies sind „ganz wichtige Strukturen, um die Qualität der Versorgung wirklich auch in der Fläche sicherzustellen“, sagt Nettekoven, dieser Impuls zur fächerübergreifenden Zusammenarbeit habe „die gesamte Versorgungslandschaft transformiert“.
Gesundheitsbewusstes Verhalten kann Krebs vorbeugen
Prävention und frühzeitige Entdeckung von Tumoren ist essenziell für die Behandlung von Krebserkrankungen und die Überlebenschancen. Dafür gibt es Früherkennungsprogramme für verschiedene Altersgruppen und Risikolagen. Laut Nettekoven könnte man heute „40 Prozent aller Krebserkrankungen vermeiden, wenn wir uns alle gesundheitsbewusster verhalten würden: Nicht rauchen, wenig oder keinen Alkohol, mehr Bewegung, bessere Ernährung, angemessener UV-Schutz.“
Was aber, wenn jemand etwas Verdächtiges feststellt und ein halbes Jahr auf einen Facharzttermin warten muss, um die Auffälligkeit untersuchen zu lassen? Das ist heutzutage keine Seltenheit mehr. Macht ihm diese Entwicklung Sorgen? „Grundsätzlich haben wir in Deutschland ein gutes Gesundheitssystem. Tatsächlich kommen lange Wartezeiten aber auch vor“, sagt Nettkoven. Dabei können schnelle Behandlungen die Überlebenschancen nennenswert erhöhen.
Nach Herz-Kreislauf-Erkrankungen ist Krebs in Deutschland die zweithäufigste Todesursache. Jedes Jahr erkranken etwa 500.000 Menschen in Deutschland neu an Krebs. „Vor 50 Jahren hat nur jeder vierte Betroffene die Krankheit überlebt. Heute sind wir dabei, 50 Prozent der Betroffenen heilen zu können.“ Dies bezieht sich darauf, dass laut Robert Koch Institut derzeit bei rund 50 Prozent der Männer und 58 Prozent der Frauen eine Krebserkrankung erfolgreich behandelt wird und sie fünf und mehr Jahre überleben. Je länger die Erkrankung her ist, desto unwahrscheinlicher ist es statistisch, dass es ein Rezidiv, ein Wiederauftreten, gibt.
Allerdings sind längst noch nicht alle Krebserkrankungen erfolgreich behandelbar, nicht alle Tumoren können operiert werden. Diese Betroffenen „können heute auch mit der Erkrankung noch ein langes Leben mit guter Lebensqualität führen“, sagt der Vorstandsvorsitzende. Die Kommunikation zwischen Ärzt*innen und Patient*innen müsse weiter verbessert werden, dazu plane die Krebshilfe eine „große Initiative“.
Wenn immer mehr Betroffene eine solche oft schwere Krankheit überleben, gibt es immer mehr Menschen, deren Leben – auch wenn es gerettet werden konnte – von Traumatisierungen, den Nachwirkungen der Erkrankung und schweren Neben- und Nachwirkungen der Behandlungen beeinträchtigt wird. Dies betrifft in Deutschland mittlerweile über fünf Millionen Menschen. Viele Betroffene fühlen sich in dieser dritten Phase alleingelassen. Es gibt kaum Stellen, die sich zuständig fühlen. In der aktuellen zweiten Halbzeit der „Nationalen Dekade gegen Krebs“ will das Bundesministerium für Bildung und Forschung diese Probleme angehen.
Gefördert werden Forschungsprojekte, die die Ursachen der Langzeitfolgen besser verstehen und Grundlagen für neue Präventionsmaßnahmen entwickeln. Hierbei geht es allerdings um die Erforschung von molekularen Ursachen und die Identifizierung molekularer Risikofaktoren, nicht so sehr um die fehlenden Versorgungsstrukturen.