Wissenschaftler*innen sehen die Auswirkungen der Pandemiebekämpfung mit Sorge. Sie fordern mehr Unterstützung für vulnerable Gruppen. In der taz, 19.05.20
Zahlreiche Wissenschaftler*innen warnen davor, dass die Corona-Pandemie gesellschaftliche Ungleichheitsverhältnisse verstärkt und soziale Spaltungen vergrößert. Das geht aus einer „Stellungnahme zur Corona-Pandemie und ihren Folgen“ hervor, die am Dienstag in Berlin veröffentlicht wurde. Maßgeblich beteiligt sind Professor*innen der Berliner Alice Salomon Hochschule (ASH). Ohne den Sinn der bisherigen Maßnahmen anzuzweifeln, sehen die Autor*innen einige Auswirkungen der Pandemiebekämpfung mit Sorge.
Dazu gehören ein „wiedererstarkendes territoriales Denken und erneute Grenzziehungen“. Zudem weisen sie darauf hin, dass „Menschen über unterschiedliche Ressourcen zur Kompensation von Krisen- und Konfliktsituationen“ verfügen. Ohne Unterstützung könne es zu „Zuspitzung und langfristigen Manifestation von Problemlagen und zu gefährdenden Situationen kommen“. Um diesen zu begegnen, reichten virtuelle Angebote nicht aus – es brauche zudem persönliche Begegnungen und zwischenmenschliche Zuwendung.
Die Pandemie biete aber auch eine Chance, den gesellschaftspolitischen Umbruch zu nutzen und langfristig und nachhaltig für Verbesserungen einzutreten. Dafür sei es wichtig, „partizipative Strategien zu entwickeln“, die außer der Prävention von Covid-19 auch „die Gesundheit, Bildungsgerechtigkeit und Chancengleichheit der gesamten Bevölkerung sowie wachsende (welt-)gesellschaftliche Ungleichheitsfolgen berücksichtigen“.
Der Appell der Autor*innen: Anstatt die Bedürfnisse der Lautesten nach Öffnung zu befriedigen, sollten die Bedarfe der vulnerabelsten Gruppen in den Fokus genommen werden, die einem hohen Ansteckungs- und Armutsrisiko ausgesetzt sind. Dazu gehörten die Nutzer*innen der sozialen Hilfesysteme oder die Beschäftigten im Sozial-, Gesundheits- und Bildungswesen. Sie sind doppelt betroffen, werden bisher aber nicht an den gesundheits- und sozialpolitischen Entscheidungen beteiligt.
Die „Zivilgesellschaft und Selbstvertretungen müssen bei der Gestaltung von Präventionsmaßnahmen stärker einbezogen werden“, fordert Dr. Gesine Bär, Professorin für „Partizipative Ansätze“, außerdem müssten „die Lasten der aktuellen Krise“ solidarischer verteilt werden, betont sie, „damit sich soziale Spaltungen nicht vertiefen“. Statt für eine „partikulare Solidarität“, die nur die Bedürfnisse der eigenen Klientel oder der eigenen Bevölkerung im Blick habe, plädieren die Autor*innen für eine „unteilbare Solidarität“.
Damit richtet sich die Stellungnahme auch gegen Missstände, die es bereits vor der Pandemie gab, wie die schlechte Bezahlung von Pflegekräften, die strukturelle Benachteiligung von Frauen oder die chronische Unterfinanzierung der Hochschulen.
Dr. Anja Voss, Professorin für Gesundheit und Bewegung an der ASH, mahnt an, dass es neben einer verbreiteten „Rhetorik der Aufwertung“ für Menschen, die in den systemrelevanten Bereichen wie Kitas oder in der Pflege arbeiten, auch eine reale, finanzielle Anerkennung brauche. Die öffentliche Infrastruktur müsse Familien und insbesondere Kinder „angemessen auffangen und unterstützen“.
Unter den Hashtags #CoronaEltern und #CoronaElternRechnenAb hatten in den vergangenen Tagen vor allem Mütter in den sozialen Medien ihrem Unmut darüber Luft gemacht, von der Politik hauptsächlich mit Lobesworten bedacht worden zu sein, aber keine spürbaren Entlastungen oder finanzielle Hilfen erfahren zu haben. Die partiellen Öffnungen von Kitas und Schulen waren von vielen als Hohn empfunden worden, da diese keine reale zeitliche Entlastung böten, aber die gesundheitlichen Sorgen erhöhten.