Leopoldina Die Akademie kann sich in ihrer Stellungnahme für einen Corona-Exit-Plan zu keinem einzigen Vorschlag durchringen, der Menschen entlastet – anstelle der Ökonomie. Freitag online, 14.04.20
Den seit Ostermontag viel diskutierten Empfehlungen der Leopoldina liegt keine Studie zugrunde, sondern es handelt sich um die ad hoc-Stellungnahme einer aus 26 Professor*innen bestehenden Arbeitsgruppe. „Ad hoc“ ist Latein und bedeutet soviel wie „spontan, ohne Vorbereitung“. Und das passt, denn die Stellungnahme liest sich teilweise, als wären es zusammengetackerte Meinungsäußerungen von selbsternannten Facebook-Corona-Experten – seltsam detailliert, selten gut begründet und oft unlogisch.
Die Wissenschaftsakademie will „Die Krise nachhaltig überwinden“, so zumindest der Titel der Stellungnahme. Nachhaltig klingt gut, ist aber vielleicht etwas viel versprochen, wenn noch nicht einmal der Peak der Infektionen abzusehen ist, also leider noch völlig unklar bleibt, wie schlimm die Krise welche gesellschaftlichen Bereiche treffen wird.
Ein für alle sehr frustrierender Faktor der jetzigen Situation ist das geringe Wissen über das Virus, die genauen Ansteckungswege und Krankheitsverläufe. Die mangelnden Testkapazitäten und die sehr unterschiedlichen Gesundheitssysteme in anderen Ländern erschweren die Vergleichbarkeit und damit eine gute Situationseinschätzung und Prognose. Gerade für Wissenschaftler*innen ist es unbefriedigend, halbwegs zutreffende Daten über die Infektionshöhe immer erst zwei Wochen später zu erhalten. Die Leopoldina reagiert auf diese Situation wie ein Kleinkind, das sich auf den Boden wirft und „ich will aber“ schreit: mehr Tests, mehr Daten, mehr Studien, Bewegungstracking, schnellere und realistischere Modellierungen. Man meint im Hintergrund das Gerangel der Lehrstühle und Universitäten um lukrative Forschungsaufträge zu hören.
Und was sollte man in der jetzigen Situation mit „tagesaktuell und regional hochaufgelösten Vorhersagen“ anfangen? In Berlin-Neukölln den Baumarkt am Mittwoch zumachen, in Dresden-Neustadt dafür nächste Woche schon wieder Tische vor die Cafés? Interessant ist auch, was in den Empfehlungen nicht vorkommt: Beispielsweise die Frage der eingeflogenen Erntehelfer*innen, die in einer Pseudo-Quarantäne zu Hungerlöhnen „unseren“ Spargel stechen dürfen, oder die Frage der Grenzschließungen und der in den Lagern festsitzenden Geflüchteten. Bezeichnenderweise wird die europäische Situation nur in Bezug auf Wirtschaftsfragen erwähnt, und auch da wird der Ruf nach einer europäischen Solidarität ungeschminkt mit den Bedürfnissen der Exportnation Deutschland untermauert.
Die Arbeitsgruppe besteht aus 23 weißen Professoren, zwei weißen Professorinnen und einem nichtweißen Professor. Besonders absurd wirkt vor diesem Hintergrund ihre eigene Forderung, vielfältige Perspektiven in die Abwägungsprozesse einzubeziehen. Zwar kommt etwa in der Mitte des Dokumentes die Feststellung vor, dass die „zusätzlichen Belastungen“ vor allem Frauen treffen (gemeint ist Kinderbetreuung und andere Reproduktionsarbeit), auch werden die Zunahme häuslicher Gewalt und psychischer Erkrankungen mehrfach als Probleme erwähnt. Wie hier eine Entlastung über Telefonhotlines hinaus aussehen kann, bleibt aber unklar. Die Leopoldina kann sich zu keinem einzigen Vorschlag durchringen, der besonders vulnerable Gruppen entlasten, dafür die Wirtschaft belasten oder das gesellschaftliche Funktionieren möglicherweise weiter einschränken würde. Die kritische Diskussion des Papiers könnte der Beginn einer Debatte sein, die uns im weiteren Verlauf der Corona-Pandemie begleiten wird: Wer hat während und nach der Krise Priorität?