Wenn Kliniken überlastet sind, stehen schwere Abwägungen an. Eine Empfehlung von Medizinern stößt auf Kritik. Im Neuen Deutschland, 06.04.2020
Was passiert, wenn die Zahl der an Covid-19 Erkrankten so stark ansteigt, dass die Kapazitäten des deutschen Gesundheitssystems nicht mehr zur Versorgung aller Schwerkranken ausreichen? Sieben medizinische Fachgesellschaften haben dieser Tage ein Papier mit klinisch-ethischen Empfehlungen veröffentlicht, das als Hilfestellung bei den zu erwartenden Entscheidungskonflikten dienen soll. Es geht um eine als Triage bekannte Priorisierung von Kranken nach ihrer Überlebensfähigkeit, die aus der Kriegs- und Katastrophenmedizin des 18. Jahrhunderts stammt.
Die Entscheidung, wer eine Überlebenschance bekommt und wen man sterben lässt, widerspricht eigentlich der medizinischen Ethik und den im Grundgesetz verankerten Werten. Die Verfasser*innen der Empfehlungen betonen, eine Priorisierung allein aufgrund des Alters oder sozialer Kriterien sei nicht zulässig. Menschen sollten durch solche Entscheidungen nicht bewertet werden. Die Autor*innen rufen dazu auf, das Papier zu kommentieren, um zu dessen Weiterentwicklung beizutragen. Gut begründete Kriterien für ihre Entscheidungen sollen die medizinisch Verantwortlichen entlasten, außerdem soll das »Vertrauen der Bevölkerung in das Krisenmanagement in den Krankenhäusern« gestärkt werden.
Der Vorschlag der Fachgesellschaften scheint medizinisch nachvollziehbar: Die Entscheidungen sollen sich am »Kriterium der klinischen Erfolgsaussicht« orientieren. Vorrangig sollten die Patient*innen notfall- oder intensivmedizinisch behandelt werden, die dadurch eine »höhere Überlebenswahrscheinlichkeit bzw. eine bessere Gesamtprognose (auch im weiteren Verlauf) haben«. Ein interprofessionelles Team aus Fachärzt*innen und Pflegekräften solle nach einem medizinischen Kriterienkatalog, in den Vorerkrankungen oder der Gebrechlichkeitsgrad einfließen, transparent, nachvollziehbar und konsensual über die Zuteilung der knappen Mittel entscheiden.
Das klingt erst einmal gerecht und logisch. Es ist wünschenswert, dass so viele Menschen wie möglich überleben. Eine solche Priorisierung heißt aber, dass die Überlebenschancen von Menschen sinken, die bereits vor einer Covid-19-Erkrankung einen höheren Versorgungsbedarf hatten. Pro Person werden hier mehr Ressourcen verbraucht, die besser aufgeteilt rein rechnerisch mehr Menschen das Überleben sichern würden. Menschen mit Beeinträchtigungen oder chronischen Krankheiten und Alte haben zudem häufig Vorerkrankungen, die ihre Überlebenschancen verschlechtern. Auch die vorgeschlagene Orientierung an einer besseren Gesamtprognose im weiteren Lebensverlauf bedeutet schlechtere Überlebenschancen für Menschen mit schweren oder mehrfachen Beeinträchtigungen. Behinderung und Alter werden so indirekt eben doch zu Kriterien für die Versorgung.
Menschen mit Behinderung, die ihre bei der Geburt prognostizierte Lebenserwartung oft um das Mehrfache überleben, fürchten sich zu Recht davor, dass solche Prognosen zur Grundlage von Behandlungsentscheidungen werden. Bei Aktivist*innen verursachen Meldungen darüber, dass Personen mit Behinderung eine intensivmedizinische Behandlung wegen ihrer Lebenserwartung verwehrt wurde und diese daraufhin gestorben seien, große Ängste. Der behindertenpolitische Verein AbilityWatch kritisierte jetzt die Fachverbände scharf, da die Kriterien »medizinisch pauschalisiert, rechtlich unhaltbar und ein ethischer Freibrief« seien, und fordert die Einbeziehung von Betroffenenverbänden. Der deutsche Ethikrat hat sich zu dem Papier zwar nicht konkret geäußert, weist in einer Ad-hoc-Empfehlung zur Coronakrise aber einen »rein utilitaristischen Modus des Abwägens im Sinne einer bloßen Maximierung von Menschenleben oder Lebensjahren« zurück.
Es werden mehr Leute an Covid-19 sterben, das ist sicher. Aber wie viele, wer und unter welchen Bedingungen, hängt nicht nur davon ab, ob die Menschen physische Kontakte vermeiden oder davon, wie viele Intensivbetten und Beatmungsgeräte zusätzlich bereitgestellt werden können.