Auch Feminist*innen sind sich nicht über jede Abtreibung einig. Im Missy Magazine 02/2020
Weg mit § 218!“ Feminist*innen sind sich einig, dass die Rege-
lung von Schwangerschaftsabbrüchen nichts im Strafgesetz-buch bei den „Straftaten gegen das Leben“ zu suchen hat. Dazu, wie Abtreibungen stattdessen geregelt werden sollen, gibt es aber bisher wenige Vorschläge und kaum Diskussionen. Diese fehlende Konkretisierung trägt zu dem trügerischen Eindruck bei, wir wollten doch alle das Gleiche. Ein Urteil gegen zwei Frauenärzt*innen vom Ende vergangenen Jahres und dessen unterschiedliche Bewertung zeigen jedoch, wie dringend solche Diskussionen geführt werden müssten.
Das Berliner Landgericht verurteilte die Ärzt*innen der Berliner Charité wegen Totschlags, obwohl sie beteuerten, von einer legalen Spaätabtreibung ausgegangen zu sein. Der Fall liegt bereits neun Jahre zurück. Die Frau war mit Zwillingen schwanger, bei einem der beiden war während der Schwangerschaft eine „schwere Hirnschädigung“ festgestellt worden. (Zu Redaktionsschluss lag die verschriftlichte Urteilsbegründung noch nicht vor.) Die Schwangere hatte eine medizinische Indikation zur Abtreibung. Eine solche Indikation kann gestellt werden, wenn die Schwangerschaft das Leben oder die körperliche oder psychische Gesundheit der schwangeren Person gefährdet. Diese wurde jedoch nicht genutzt – nach Angaben der Ärzt*innen, um den „gesunden“ Fötus nicht zu gefährden. Stattdessen wurde die Schwangerschaft nach der Diagnose mehrere Wochen fortgesetzt. Mit dem natürlichen Einsetzen der Wehen leiteten die Ärzt*innen einen Kaiserschnitt ein und holten zuerst das nicht beeinträchtigte Kind aus dem Bauch. Sie verabreichten dem beeinträchtigten Zwilling eine tödliche Spritze und holten ihn dann aus dem Uterus.
Der Richter ging davon aus, dass die beiden Ärzt*innen der Schwangeren versprochen hätten, nur das „gesunde“ Kind zur Welt zu bringen. Ein solcher Wunsch der Frau hat aber nichts mehr mit der Vermeidung einer Gesundheitsgefährdung der Schwangeren zu tun. Die damalige Oberärztin und der Chefarzt gaben in dem Prozess an, weiterhin von einer Spätabtreibung ausgegangen zu sein, da sich das Kind bei der Tötung ja noch im Uterus befunden habe. Dies fand der Richter jedoch nicht glaubhaft. Vielmehr hätten sie sich „bewusst über geltendes Recht hinweggesetzt“, das Schwangerschaftsabbrüche nach medizinischer Indikation bis zum Einsetzen der Geburt erlaubt, sagte er in der mündlichen Urteilsbegründung. Auch eine Gefährdung des „gesunden“ Zwillings durch einen regulären Spätabbruch konnte ein Sachverständiger nicht bestätigen.
Die Oberärztin wurde zu einem Jahr und sechs Monaten Haft verurteilt, der Chefarzt im Ruhestand zu einem Jahr und neun Monaten, jeweils zur Bewährung. Der Vorsitzende Richter fand deutliche Worte: Ein derartiges „Aussortieren“ von kranken oder behinderten Säuglingen sei nach dem Willen des Gesetzgebers strafrechtlich nicht zulässig, so der Vorsitzende. In der mündlichen Begründung erklärte er, ein solches Vorgehen sei ein Schlag ins Gesicht behinderter Menschen. Beide Ärzt*innen haben mittlerweile Revision eingelegt, als Nächstes wird also der Bundesgerichtshof über den Fall entscheiden.
Nach Zahlen des Statistischen Bundesamts wurden 2018 in Deutschland 100.986 Schwan- gerschaftsabbrüche durchgeführt, ein Großteil davon, 97.151, bis zur zwölften Schwangerschaftswoche nach der sogenannten Beratungsregelung, nach der ein Schwan- gerschaftsabbruch unter gewissen Bedingungen straffrei bleibt. Eine medizinische Indikation war bei 3815 Schwangeren die Begründung für den Abbruch, davon haben 1032 nach der zwölften und 655 Schwangere nach der 22. Woche abgetrieben. Bei Abbrüchen ab der 22. Schwangerschaftswoche wird der Fötus vor dem Einleiten der Geburt mit einer Spritze Kaliumchlorid ins Herz getötet, um zu vermeiden, dass er die Abtreibung überlebt. 641 Fetozide wurden durchgeführt, zusätzlich 54 sogenannte Mehrlingsreduktionen.
Zwar machen späte Abbrüche nach medizinischer Indikation nur den geringsten Teil der Abtreibungen aus, sie sind jedoch wegen ihrer körperlichen und gesetzlichen Besonderheiten geeignet, einige Probleme des feministischen Pro- Choice-Diskurses zu erhellen. 1995 wurde die embryopathische Indikation, also die Erlaubnis, einen Schwangerschaftsabbruch nur wegen einer Beeinträchtigung des Fötus durchzuführen, abgeschafft. Diese Fälle werden seitdem der medizinischen Indikation zugeordnet: Wenn eine schwangere Person ein Leben mit einem behinderten Kind als nicht zumutbar empfindet, kann dies als Gefahr für ihre psychische Gesundheit eingestuft werden. Diese Einschätzung hängt allerdings in der Realität meist mehr von der angenommenen Stärke der Beeinträchtigung und dem gesellschaftlichen Zustand der Inklusion ab als vom psychischen Zustand der Schwangeren. Obwohl das Gesetz es nicht vorsieht, ist es in der Praxis einfacher, eine medizinische Indikation wegen einer pränatalen Diagnose des Fötus zu bekommen als wegen diagnostizierter psychischer Probleme der Schwangeren, etwa einer Depression oder eines Traumas.
Manche*r Feminist*in empörte sich über das Urteil: Nach dem Motto „Mein Körper, meine Entscheidung“ zählt die Entscheidung der Frau, bis der Fötus ihren Körper verlassen hat. Da die Frau das beeinträchtigte Kind nicht zur Welt bringen wollte und sich nicht vorstellen konnte, mit ihm zu leben, sei die „richtige“ feministische Position, die Entscheidung der Frau zu verteidigen. Demnach ist es völlig legitim, den beeinträchtigten Fötus so schonend (für die Frau und den anderen Zwilling) zu entfernen wie möglich. Feminist*innen mit so einem Ansatz sehen in dem Prozess nur einen weiteren Grund, den § 218 abzuschaffen.
Andere Feminist*innen waren entsetzt über das Vorgehen der Ärzt*innen, weil diese den Wunsch der Frau und das Wohl des „gesunden“ Zwillings über das Wohl des beeinträchtigten Kindes gestellt hatten. Da aber das Kind am Leben und lebensfähig gewesen sei, hätten auch seine Bedürfnisse beachtet werden müssen. Das Leben von Babys mit Beeinträchtigung für weniger wert oder weniger wichtig zu halten sei behin- dertenfeindlich und ableistisch. Die Annahme, Menschen mit Behinderung würden sowieso nur leiden und ein unzumutbares Leben führen, ist weitverbreitet, aber falsch. Medizinisch klingende Schlagworte wie „schwere Hirnschädigung“ oder „nicht lebensfähig“ erleichtern es aber, in so einer Tötung einen Gnadenakt zu sehen. Die Gründe für einen Abbruch nach pränataler Diagnostik sind häufig Annahmen über die Lebensqualität des zukünftigen Kindes und der zukünftigen Eltern. Diese sind oft von einem Bild von Behinderung geprägt, das Menschen, die tatsächlich mit (die- sen) Behinderungen leben, als unrealistisch, vor- urteilsbehaftet und diskriminierend empfinden.
Feminist*innen fokussieren ihre Kritik normalerweise nicht auf Schwangerschaftsabbrüche, sondern auf Pränataldiagnostik, die nach einer Beeinträchtigung sucht, ohne aber einen konkreten gesundheitlichen Vorteil für die schwangere Person oder den Fötus zu bieten. Wenn aber Vorurteile oder falsche Informationen über Behinderungen zu der Entscheidung für eine Abtreibung führen, ist das auch ein feministisches Problem. Wenn die eigene Angst vor Behinderung und der gesellschaftliche Druck die Handlungsoptionen der Schwangeren beschränken, ist es schwer zu sagen, wie selbstbestimmt diese Entscheidung überhaupt war.
Für die feministische Diskussion über Abtreibung ist nicht so sehr die Frage interessant, wann „das Leben“ beginnt. Abtreibungsgegner*innen reklamieren dagegen durch ihre Selbstbezeichnung als „Lebensschützer*innen“ moralische Überlegenheit und sehen sich als Vertreter*innen der „ungeborenen Kinder“. Für sie ist jeder Fötus schon ein Baby, jeder Embryo schon ein Mensch. Feminist*innen bestehen hingegen darauf, dass Schwangere selbst und unbeeinflusst entscheiden können müssen, solange es um ihren Körper geht. Vereinfacht gesagt: Der Fötus befindet sich im Körper der Schwangeren = ihre Entscheidung, das Baby befindet sich außerhalb = nicht mehr ihre Entscheidung. Demzufolge macht es Sinn, dass der Fötus einen anderen Stellenwert hat als das geborene Kind, und Feminist*innen vermeiden es zu Recht, Föten als Individuen oder Subjekte zu bezeichnen.
Es wäre also aus einer Pro-Choice-Perspektive fahrlässig, die Grenze der Geburt aufzugeben. Sobald diese angefangen hat, kann es keine Abtreibung mehr geben. Die Wunscherfüllung von Schwangeren, auch in extremen Ausnahmesituationen wie in dem verhandelten Fall, als Selbstbestimmung zu verteidigen, würde diese logisch begründbare Grenzziehung aufgeben. Eine solche Entscheidung könnte für die politische Agenda der Bewegung fatale Folgen haben, denn was diese Unterscheidungslinie zwischen Fötus und Kind, zwischen Leben, über das die Schwangere entscheiden kann, weil es sich in ihrem Körper befindet, und Leben, über das sie eben keine Entscheidung mehr haben kann, ersetzen könnte, ist völlig unklar. Kein*e Feminist*in kann ein Szenario wollen, in dem es legal wäre, ein halb geborenes Kind einer Sichtkontrolle auf die Schwere der Beeinträchtigung zu unterziehen und es dann totzuspritzen, wenn es „schlimmer“ ist, als die dann doch nicht zukünftige Mutter es sich vorstellen kann.
Eine Diskussion über eine zivilrechtliche Gesetzgebung über Schwangerschaftsabbrüche, Beratung, Finanzierung und medizinische Versorgung, die den § 218 ersetzen könnte, ist dringend nötig. Im vergangenen Jahr wurde etwa auf Einladung des Gunda-Werner-Instituts bei dem Workshop „Politische Arbeit, Menschenrechte und Reform des Abtreibungsrechts“ ein erster Aufschlag dafür gemacht. Es wird höchste Zeit, diese Debatte fortzuführen und uns, als intersektionale Feminist*innen, dabei nicht um die schwierigen Fragen herumzudrücken.