Der rassistische Terroranschlag von Hanau ist viel zu schnell von den Titelseiten und aus den Schlagzeilen verschwunden. Karneval und Coronavirus waren bald wichtiger als der Versuch, zu verstehen, was am 19. Februar in der hessischen Stadt passiert ist, und der Opfer würdig zu gedenken.
Die Mutter des rechtsextremen Mörders von Hanau war sein letztes Opfer, bevor er sich selbst erschoss. Mittlerweile wird ihr Name, Gabriele Rathjen, häufiger genannt, doch in manchen Aufzählungen der Opfer fehlt sie weiterhin oder wird mit Frau R. abgekürzt.
Die Namen der bisher bekannten Opfer Gökhan Gültekin, Sedat Gürbüz, Mercedes Kierpacz, Hamza Kurtović, Vili Viorel Păun, Fatih Saraçoğlu, Ferhat Unver, Kaloyan Velkov zu nennen, sie zu kennen (und aussprechen zu können) ist wichtig. Den Anschlag als rassistisch zu benennen, ist für die gesellschaftliche Debatte darüber und die politische Reaktion darauf unabdingbar. Allerdings sollte die Betonung der rassistischen Vernichtungsphantasien nicht so weit gehen, dass die anderen menschenfeindlichen Elemente der Täterideologie vernachlässigt werden. Das sozialdarwinistische Motiv der vom Täter unterstellten mangelnden Leistungsfähigkeit zieht sich wie ein roter Faden durch die Seiten seines Pamphlets. Ganze »Volksgruppen« verdienten wegen »Leistungsunterschieden zwischen den Rassen« die Vernichtung.
Wie die Amadeu-Antonio-Stiftung auf ihrer Website schreibt, lässt sich gegenwärtig nicht sicher sagen, ob der Täter auch seine Mutter aufgrund eines rechtsextremen Motivs ermordete. Genaueres über den Hergang der Tat in der gemeinsamen Wohnung könnte mit der bald erwarteten Aussage des Vaters des Täters bekannt werden. Die Abneigung gegen Frauen war jedoch sicher eine wichtige Motivation für den Mörder, fünf Seiten seines Pamphlets sind dem »Thema Frauen« gewidmet. Er schreibt, dass er noch nie eine Beziehung zu einer Frau gehabt habe, und auch hier zeigt sich die extreme Leistungsorientierung des Täters: Weniger als »das Beste« sei für ihn nicht in Frage gekommen – auffällig allerdings auch die Versachlichtung, es ging offenbar nicht um »die Beste«.
Die Mutter des Täters war eine 72jährige pflegebedürftige Rentnerin. Manche gehen von einem »erweiterten Selbstmord« aus, der Täter habe die geliebte Mutter nicht in einer ohne ihn nicht lebenswerten Welt zurücklassen wollen. Aber selbst wenn der Täter dachte, er täte seinem Opfer einen Gefallen, ist es nicht weniger ein Mord. Auch die Annahme, seine Mutter trüge eine Mitverantwortung an seiner Entwicklung zu einem rechtsextremen Mörder, kann eine Rolle dabei spielen, dass man ihren Namen nicht in einer Reihe mit den übrigen Opfern nennen will. Solange es dafür aber keine Beweise gibt, scheint dieser Auslassung mehr die misogyne Annahme zugrunde zu liegen, dass die Mutter immer Mitschuld trägt. Der letzte tödliche Zugriff auf die in seinem Leben präsente Frau verschwindet hinter solchen Mutmaßungen. Ein weiteres Motiv, das in der extremen Rechten eine wichtige Rolle spielt, ist die vom Leistungsgedanken befeuerte Behindertenfeindlichkeit. In der Tötung der Mutter könnte die Idee, die Erde von nicht leistungsfähigen Elementen zu befreien, mit der Idee, Mutter in einem vermeintlich unerträglichen Zustand Sterbehilfe zu leisten, zusammengekommen sein. Das zehnte Opfer auszublenden, heißt auch, diese rechtsextremen Motive zu vernachlässigen.