Wie die »Lebensschutz«-Bewegung NS-Verbrechen instrumentalisiert. Von Kirsten Achtelik, im Neues Deutschland
Auch am nächsten Samstag wird wieder der »Marsch für das Leben« durch Berlin ziehen – vermutlich einige Tausend sich selbst als »Lebensschützer« bezeichnende junge und alte Menschen, Frauen und Männer. Die meisten von ihnen werden religiös motiviert sein, ob kirchlich-katholisch oder freikirchlich-evangelikal. Viele von ihnen werden mit ihrer Gemeinde angereist kommen. Mitlaufen werden auch Frauen, die eine Abtreibung hatten und dafür die Vergebung Gottes suchen. Dabei sein werden aber auch Menschen mit sichtbaren Behinderungen, einige von ihnen in Rollstühlen.
Viele dieser Menschen werden eines der jeweils ein Meter messenden weißen Holzkreuze tragen, die an die durch Abtreibung »getöteten ungeborenen Kinder«, wie sie es nennen, erinnern sollen. Viele werden auch die grünen Schilder des die Demonstration veranstaltenden »Bundesverbands Lebensrecht« (BVL) tragen. Darauf wird man Losungen lesen können wie zum Beispiel »ungeboren + behindert = wertlos?«, »Nie wieder unwertes Leben«, »Inklusion statt Selektion« oder auch »Inklusion beginnt schon vor der Geburt«.
In einigen Reden wird sehr wahrscheinlich der Bluttest auf Trisomie 21 – das sogenannte Downsyndrom – problematisiert werden. Denn um die Mitte des kommenden Jahres soll die Entscheidung darüber fallen, ob die Kosten für diese Untersuchung von den Krankenkassen als Regelleistung übernommen werden oder nicht. Ziemlich sicher wird auf der BVL-Demonstration die Mutter eines Menschen mit dieser Behinderung auf die Bühne kommen und davon berichten, was für eine Bereicherung ihr Kind nicht trotz, sondern sogar wegen seiner Behinderung ist – und wer wollte einer solchen Erzählung widersprechen?
Seit einigen Jahren schon wird die sich so nennende Lebensschutzbewegung in der Öffentlichkeit ganz unbestreitbar wieder stärker wahrgenommen. Und sie ist bestrebt, dieses spürbare Comeback durch eine Art von Imagearbeit zu verstärken, die ihre Wahrnehmung als reaktionär und frauenfeindlich in den Hintergrund rücken soll. Dabei ist es eine ihrer Strategien, sich explizit als Lobby für die Interessen behinderter Menschen darzustellen – gerne auch als deren einzige wirklich konsequente Vertretung: Habe doch niemand sonst die Bedürfnisse bereits der »ungeborenen« Menschen mit Behinderungen im Blick!
Wie instrumentalisierend diese Art des Lobbyismus für behinderte Menschen jedoch tatsächlich ist, zeigt sich immer dann, wenn sich diese anders positionieren, als es der BVL erwartet. Vielleicht wird sich auch am kommenden Wochenende wieder beobachten lassen, wie fassungslos und widerwillig die ihm Nahestehenden reagieren, wenn erkennbar behinderte Menschen nicht am »Marsch für das Leben« teilnehmen, sondern dagegen protestieren. Dass beispielsweise Rollstuhl fahrende Feministinnen von ihrer selbst ernannten Lobby zürnend gefragt werden, ob sie denn ihres eigenen Lebens nicht froh seien, ist sozusagen Standard in dieser Konstellation.
Hier zeigt sich deutlich, dass der Kern dieser Spielart von »Behindertenfreundlichkeit« in reinstem Paternalismus besteht. Föten mit Behinderung werden als »Schwächste der Schwachen« bezeichnet, um die man sich ganz besonders »kümmern« wolle. Behinderung in einer solchen Weise mit Schwäche gleichzusetzen, ist aber – wiewohl weithin Konsens unter karitativ-religiösen Menschen – von egoistischen Konnotationen nicht frei: In der religiösen Überhöhung von vermeintlichem Leiden wird Behinderung als von Gott gestellte »Aufgabe« gedacht. Entsprechend erscheint das Auf-sich-Nehmen der Behinderung anderer als Beweis von Gottesfürchtigkeit. Im Jenseits werde das scheinbar schwere Schicksal dann gewürdigt. So ermöglicht es der behinderte Mensch durch seine vermeintliche Bedürftigkeit anderen, Gutes an ihm oder ihr zu tun – und ebnet so den Helfenden den Weg in den Himmel.
Ohne Frage grundieren solche Denkfiguren die Haltung vieler Personen, bei denen die »Lebensschutz«-Bewegung verfängt. Nicht wenige Menschen, die tatsächlich selbst mit Behinderungen leben, wenden sich indessen vehement gegen eine derartige Thematisierung ihrer Lebensumstände. Ihnen geht es um eine enthindernde Gestaltung der Gesellschaft, die ein selbstbestimmtes Leben mit Behinderung ermöglicht. Gerade die Formen alltäglicher Assistenz, die sie vielleicht brauchen, wollen sie selbst auf Augenhöhe organisieren und nicht bloß dankbar-passiv empfangen müssen. Der Gegensatz zwischen einerseits einem solchen »Empowerment« Betroffener und andererseits jenen in der »Lebenschutz«-Szene verbreiteten Perspektiven einer entmündigenden Für-Sorge könnte deutlicher kaum sein. Und er hat in Deutschland eine spezifische, erinnerungspolitisch aufgeladene Geschichte.
Geradezu entrüstet zeigte sich der organisierte »Lebensschutz« bereits Mitte der 1980er Jahre, als sich ihm nicht nur Feministinnen, Grüne und Antifas, sondern auch Menschen in Rollstühlen verweigerten und entgegenstellten. Ganz gezielt hatte der Dachverband »Aktion für das Leben e.V.« im Mai 1986 im hessischen Hadamar – einem der Tötungsorte für von den Nazis im Rahmen der »Aktion T 4« als »lebensunwert« klassifizierte Menschen mit Behinderungen und psychischen Erkrankungen – eine »Sühnekundgebung« angemeldet: 40 Jahre nach diesen Morden, so erklärte man, wiederhole sich dieses Unrecht. Wieder werde nach »lebenswert« und »lebensunwert« sowie »erwünscht« und »unerwünscht« selektiert. Gemeint war damit die zehn Jahre zuvor mit der Indikationslösung liberalisierte Abtreibungsregelung, die unter anderem eine schwerwiegende und unbehebbare, der Schwangeren nicht zumutbare Schädigung des Kindes aufgrund schädlicher Einflüsse oder der Erbanlage als legitimen Grund für einen Schwangerschaftsabbruch bestimmte.
Schon damals hatte sich der »Lebensschutz«-Dachverband also gewissermaßen progressiv absichern wollen. Er bot sogar dem »Bundesweiten Zusammenschluss der Behinderten- und Krüppelinitiativen« eine Zusammenarbeit an. Die »Krüppelgruppe Bremen« antwortete indes mit einer schroffen Zurückweisung dieses für sie sehr durchsichtigen Instrumentalisierungsversuchs. Außerdem empfahl sie dem »Lebensschutz«, sich um seiner Glaubwürdigkeit willen doch mehr um das Wohlergehen der Lebenden zu kümmern. Die Behinderten- und Krüppelgruppen schlossen sich dann lieber der Gegenmobilisierung seitens »Pro Familia«, der Vereinigung der Verfolgten des Naziregimes und der »Bundesweiten Koordination gegen den § 218« an.
Der Gedanke, dass ihr geschichtspolitisches »Argument« die NS-Opfer tatsächlich instrumentalisierte, war den Anti-Abtreibungsinitiativen bis dahin wohl noch gar nie gekommen – zu fest verankert war und ist in ihrem Weltbild die Gleichsetzung von befruchteten Eizellen mit lebenden Menschen. Denn nur aus einer ideologisch verhärteten Sicht ist es gleichgültig, ob man über eine Abtreibung nach einer pränatalen Diagnose spricht oder über den qualvollen Tod in einer Gaskammer nach einem staatlich durchorganisierten, rassistischen Selektionsprozess.
Eine derart unverhüllte Gleichsetzung von Schwangerschaftsabbruch und NS-Morden ist hierzulande heute freilich nur eingeschränkt gesellschaftsfähig. Die Opfernarrative und Gedenkpolitiken haben sich seit den 1980er Jahren doch erheblich verschoben: Eine Figur wie Klaus Günter Annen, der mit seiner Webseite »Babycaust.de« suggeriert, Abtreibungen seien schlimmer als der Holocaust, ist heute eher am Rande der Bewegung zu finden – auch wenn er neuerdings infolge seiner Anzeigen wegen Verstoßes gegen das »Werbeverbot« für Abtreibungen wieder stärker öffentlich wahrgenommen wird. Und anders als vor 30 Jahren vermeiden die großen Player der Bewegung heute eine sprachliche Gleichsetzung von Pränataldiagnostik und der »Euthanasie« der Nazis. Der Euthanasiebegriff wird von ihnen eher in Bezug auf Sterbehilfe verwendet.
Ungebrochen ist hingegen die Gleichsetzung von geborenen und »ungeborenen« Menschen. Auf der Internetseite des bundesdeutschen »Marsches für das Leben« ist etwa das Video »MA(L)CHANCE« des französischen Pendants »Marche pour la vie« prominent platziert. In diesem wird eine junge Frau mit einem Schwangerschaftstest gezeigt, um sodann mit einem etwa 3-jährigen Kind und auf einem Operationstisch gegeneinander geschnitten zu werden. Das Kind in ihren Armen erleidet während der Operation mehrfache blutige Verletzungen und löst sich schließlich auf. Auf der Bildebene funktioniert die Botschaft, die auf der Sachebene Unsinn ist – denn bei einer Abtreibung wird kein Kind zerschnitten.
Die Instrumentalisierung von Behinderten für den »Lebensschutz« aber ist international verbreitet. So hat etwa in Polen die katholisch-nationale Regierung der PiS erst kürzlich versucht, eine Verschlechterung der ohnehin bescheidenen Möglichkeiten legaler Schwangerschaftsabbrüche mit einem Rekurs auf Behindertenrechte durchzusetzen – allerdings ohne großen Erfolg: Ihre Bemühungen, alle Abtreibungen unter Strafe zu stellen, die nicht aufgrund einer unmittelbaren Lebensgefahr für die Schwangere vorgenommen werden, stellte sie im September 2016 nach dem »Czarny Protest« – »Schwarzer Protest« – ein.
Stattdessen versprach die mit absoluter Mehrheit regierende Rechtspartei ein Programm zum »Schutz des werdenden Lebens«: Frauen, die sich für die Geburt eines behinderten oder schwer kranken Kindes entscheiden, sollten demzufolge eine Prämie von 1000 Euro erhalten. Zudem sollte die embryopathische Indikation, also die Abtreibung bei festgestellter schwerer Erkrankung oder Entwicklungsstörung des Embryos, illegalisiert werden. Eine Besetzung des Sejms durch behinderte Menschen und ihre Familien, die mehr staatliche Unterstützung forderten, konterkarierte im April und Mai 2018 allerdings auch diesen Schachzug. Die Familien wurden durch Kundgebungen und Besuche aus Politik und Prominenz unterstützt, auch Polens einstiger Präsident Lech Walesa war da.
Die Beihilfe für Menschen mit Behinderung ist in Polen sehr gering. Im Wahlkampf hatte die PiS versprochen, dies zu ändern – passiert ist aber wenig. Der Widerspruch zwischen der Symbolpolitik, die mit dem Verbot von Abtreibungen aufgrund von Behinderung betrieben wird und der fehlenden Unterstützung von tatsächlich behinderten Menschen war dann doch zu offensichtlich: Das Gesetz zur Streichung der embryopathischen Indikation wurde zwar im Rechtsausschuss angenommen, aber nicht an das Parlament weitergeleitet; es liegt ebenfalls auf Eis. Auch hier haben sich die Betroffenen nicht mit Krümeln, Worten und Symbolhandlungen abspeisen lassen, sondern ihre Interessen laut artikuliert.
So sehr wie die Geschichte um Hadamar zeigt hier das polnische Beispiel, wie sich solcher paternalistischen »Behindertenfreundlichkeit« entgegentreten lässt – ein Signal auch für die Proteste gegen den Berliner »Marsch für das Leben«.
Info
Zum Thema hat Kirsten Achtelik mit Eike Sanders und Ulli Jentsch das Buch »Kulturkampf und Gewissen. Medizinethische Strategien der ›Lebensschutz‹-Bewegung« veröffentlicht (Verbrecher-Verlag 2018, 160 S., brosch., 15 €).