Die christlich-fundamentalistische »Lebensschutz«-Bewegung macht sich gerne zum Fürsprecher der von ihnen als »Schwächste der Schwachen« bezeichneten Menschen mit Behinderungen, sie tritt sonst sehr lautstark den möglichen selektiven Auswirkungen beispielsweise pränataler Test entgegen und scheut sich auch nicht, den historisch eindeutig belasteten Begriff der »Euthanasie« zu verwenden. Zu einem Antrag der AfD im Bundestag, der auf perfide Weise Behinderung, »Inzucht« und Migration in einen Kontext stellt, herrscht indes dröhnendes Schweigen.
auf apabiz.de, 19. Juli von Kirsten Achtelik, Eike Sanders und Ulli Jentsch
Die AfD hat sich in letzter Zeit unter menschenrechtlich und behindertenpolitisch Engagierten keine Freund*innen gemacht. Mit ihrer Kleinen Anfrage an die Bundesregierung über »Schwerbehinderte in Deutschland« suggerierte sie Ende März, dass der leichte Anstieg der Zahl der Menschen mit Schwerbehindertenausweis ursächlich mit dem angeblich bei Menschen mit »Migrationshintergrund« vermehrt stattfindendem »Heiraten in der Familie« zusammenhänge. Dies wurde in den sozialen Medien wütend aufgenommen und auch die Sozialverbände reagierten: Ende April erschien eine Anzeige von 18 Sozialverbänden und Behindertenorganisationen unter der Überschrift »Wachsam sein für Menschlichkeit« in der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung. Damit kritisierten sie die »unerträgliche Menschen- und Lebensfeindlichkeit« der Anfrage und durchbrachen ihr bisheriges Schweigen zu sozialpolitischen Vorstößen der AfD. Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, erklärte in der taz den Strategiewechsel der Verbände gegenüber der Partei: »Wir haben lange zu menschenverachtenden Sprüchen geschwiegen, um die AfD nicht aufzuwerten. Aber leider ist es ja so: Die AfD wird auch stärker, wenn man nicht reagiert.«
Die AfD-Bundestagsabgeordnete Nicole Höchst hat auf die Kritik der Verbände postwendend mit Drohungen reagiert und forderte, die Vergabe von Bundesmitteln an die Sozialverbände zu überprüfen. Diese würden »Lobbyarbeit für die Regierungsparteien« machen anstatt »ihre Mitglieder« beziehungsweise die »Interessen der Behinderten« »ordentlich« zu vertreten.
Durch ihre Behindertenfeindlichkeit fiel die Partei auch auf, als sich der AfD-Fraktionsvorsitzende im saarländischen Landtag, Josef Dörr, in einer Debatte zu Förderschulen am 18. April 2018 gegen den gemeinsamen Unterricht von Kindern mit und ohne Behinderung aussprach. Dabei verglich er Kinder mit Behinderung mit Menschen mit »schweren, ansteckenden Krankheiten«, die von den »anderen Kindern, die ganz normal, gesund sind« getrennt werden sollten. Auch diese Äußerung wurde von Sozialverbänden, Behindertenorganisationen und den anderen Parteien nachdrücklich zurückgewiesen.
Die einzige behindertenpolitische Position im 2016 beschlossenen Grundsatzprogramm der AfD lautet: »Die ideologisch motivierte Inklusion ‚um jeden Preis‘ verursacht erhebliche Kosten und hemmt behinderte wie nicht behinderte Schüler in ihrem Lernerfolg. Die AfD setzt sich deshalb für den Erhalt der Förder- und Sonderschulen ein.« Folgerichtig hat die Bundestagsfraktion auch derzeit keine*n behindertenpolitische*n Sprecher*in. Einzelne Abgeordnete und Landtagsfraktionen hatten indes immer wieder auf die angeblich zu hohen Kosten von Inklusion, auf die Eigenverantwortung der Eltern und vor allem die angebliche Beeinträchtigung leistungsstarker Schüler*innen durch Inklusion hingewiesen. Die sächsische AfD-Abgeordnete Andrea Kersten schlussfolgerte schon im März 2017: »Die AfD-Fraktion lehnt die Inklusion ab.«
»Lebensschutz«-Bewegung schweigt
Diese Frontstellung der Partei gegen Menschen mit Behinderung sollte sie eigentlich auch in Schwierigkeiten mit Teilen ihrer eigenen Klientel bringen: der »Lebensschutz«-Bewegung und rechten Christ*innen. Denn es ist eine der auch international beobachtbaren Strategien der »Lebensschutz«-Bewegung sich in ihrem Kampf gegen Schwangerschaftsabbrüche als einzige Vertretung von Menschen mit Behinderungen zu positionieren.
Dennoch gibt es von dieser Seite keine Kritik. In der katholischen Die Tagespost durfte der kirchenpolitische Sprecher der AfD-Bundestagsfraktion, Volker Münz, den Antrag sogar verteidigen und die Kritik daran als »grob unwahr« und »absurd« zurückweisen. Auch von evangelikaler Seite nur Bigotterie: Die Medienagentur zeichensetzen aus Wetzlar, deren alleiniger Gesellschafter der evangelikale idea e.V. ist, organisierte und bewarb den diesjährigen Inklusionspreis für die Wirtschaft 2018, der unter der Schirmherrschaft des SPD-geführten Bundesministeriums für Arbeit und Soziales »vorbildliche Beispiele zur Beschäftigung von Menschen mit Behinderung« prämiert. Auf der sonst so meinungsstarken Webseite idea.de sind in letzter Zeit ungezählte Artikel und Meldungen zu behindertenpolitischen Themen erschienen, vom Feiern eines Karaoke-Internethits von Müttern und ihren Kindern mit Trisomie 21 bis hin zum Bericht über die Tagung des Bundesverbandes Lebensrecht (BVL) unter dem Titel »Abtreibung behinderter Kinder: Der gesellschaftliche Druck wächst« – doch kein einziger Artikel zum behindertenfeindlichen und rassistischen Vorstoß der AfD.
Anbiederung an die AfD
Stattdessen eine wohlwollende Berichterstattung über die offensichtliche Anbiederung der AfD an die »Lebensschutz«-Bewegung, bei der die AfD beim derzeitigen Kampf um den § 219a politisches Unterstützungspotenzial wittert. So berichtet idea über den Gesetzentwurf von Michael Frisch, familienpolitischer Sprecher der AfD-Fraktion im Landtag von Rheinland-Pfalz. Frisch, der als überzeugter Abtreibungsgegner seit Jahren durch Anfragen und Stellungnahmen gegen die »finanziellen Förderung der ProFa-Tötungsklinik« (also gegen Pro Familia) in Mainz Politik macht, präsentierte Ende April 2018 einen Entwurf zum »Gesetz zur öffentlichen Information und Aufklärung über die Schutzwürdigkeit und Schutzbedürftigkeit ungeborener Kinder«, kurz Lebensschutzinformationsgesetz. 15 Cent pro pro Jahr sollen demnach Organisationen und Initiativen von jede*r Einwohner*in des Landes bekommen, die mit »sachlicher Information« die Schutzbedürftigkeit werdender Kinder »als Mitglied der menschlichen Gemeinschaft verständlich machen«.
Ausgeschlossen seien dagegen Organisationen, die »durch ihr Verhalten, ihre Äußerungen oder ihr Auftreten in der Öffentlichkeit Anlaß zu Zweifeln geben, daß sie für die Förderung des ungeborenen Kindes eintreten«, so berichtet die extrem rechte Junge Freiheit, der der Entwurf vorliegt. Im Interview mit der AfD-nahen Online-Zeitung Die Freie Welt sagte Frisch: »Dabei würden auch private Initiativen aus der Pro-Life-Bewegung Berücksichtigung finden, soweit sie Projekte anbieten, die für vorgeburtlichen Lebensschutz werben.« Interessanterweise will Frisch sich auch der ausgeweiteten Themenpalette der »Lebensschutz«-Bewegung annehmen, er nennt den Embryonenschutz und die »Leihmutterschaft, aber auch die Problematik des menschenwürdigen Sterbens und der Sterbehilfe.« Bezeichnend ist die Auslassung des Themenfeldes Pränatal- und Präimplantationsdiagnostik – eben jenes, in dem die »Lebensschutz«-Bewegung unter dem Slogan »Inklusion beginnt vor der Geburt« punkten kann und in welchem ihr die AfD diametral mit ihrer Inklusionskritik entgegen steht.
Desinformationsmobilisierung
Und es ist auch Michael Frisch, der in jenem Interview auf dem Blog Die Freie Welt eine weitere aktuelle Kampagne der »Lebensschutz«-Bewegung ausbreiten darf. Die freie Information und der Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen, wie sie das EU-Parlament fordert, wird von ihm als »Abtreibungsgeschäft« diffamiert. Angeblich bereite »die Abtreibungslobby« vor, »Abtreibung als Menschenrecht zu definieren«, wodurch »jeder Widerstand dagegen zu einem Grundrechtsverstoß« werde. Das Ergebnis sei »eine moralische Katastrophe und eine radikale Abwendung von der europäischen Menschenrechtstradition«.
Was Frisch hier so dramatisch skizziert, basiert tatsächlich auf einer Falschdarstellung, die derzeit vor allen von dem Netzwerk rund um die AfD-Europaabgeordnete Beatrix von Storch verbreitet wird. Das EU-Parlament hatte am 1. März 2018 in einer »Entschließung zur Lage der Grundrechte in der Europäischen Union 2016 (2017/2125(INI))« in dem Abschnitt »Diskriminierung« einzig anerkannt, »dass die sexuelle und reproduktive Gesundheit von Frauen mit zahlreichen Menschenrechten im Zusammenhang steht, darunter dem Recht auf Leben, dem Recht, nicht der Folter unterworfen zu werden, dem Recht auf Gesundheit, Privatsphäre und Bildung sowie dem Diskriminierungsverbot« und das gleiche Recht für »Menschen mit Behinderungen« betont.
So weit, so banal. Kein Wort davon, dass Abtreibung als ein Menschenrecht definiert werden soll oder eine Weigerung von medizinischem Personal, an Abtreibungen mitzuwirken, ein »Grundrechtsverstoß« darstellen soll. Diese Kampagne erinnert stark an die Methoden der Diffamierungen und absichtsvollen Verdrehungen, wie sie in den letzten Monaten auch in der Auseinandersetzung um den Paragrafen 219a eingesetzt wurden. Hier treffen sich AfD, die »Lebensschutz«-Bewegung, aber eben auch die Rechtskonservativen in der Union in ihrem erklärten »Kulturkampf« gegen reproduktive Rechte, in dem offenbar auch die Wahrheit gebeugt werden darf.