Klar wünschen sich auch Menschen mit Behinderungen Kinder. Dass es geht und welche Probleme dabei auftreten können, zeigt die Reportage im Missy Magazin 05/17, online beim GWI (dort auch alle Fotos), zusammen mit Judyta Smykowski.
Frauen mit Behinderung und Kindern, aber ohne Mann – alles geht, wenn man es nicht alleine stemmen muss. Die 53-jährige Daniela Schremm wohnt im ersten Stock eines alten Gewerbehofs in St. Georg, zentral, aber idyllisch gelegen, direkt an der Hamburger Außenalster. Im Wohnprojekt „Drachenbau“ lebt sie seit 1989 zusammen mit 75 anderen Personen. Sie ist Rollstuhlfahrerin und hat „Glasknochen“ (Osteogenesis imperfecta) – die vererbbare Beeinträchtigung wird so genannt, weil die Knochen leicht brechen. „Seit ich denken kann, haben meine Eltern mir klargemacht, dass ich keine Kinder bekommen soll“, so Schremm. Für die Eltern sei die Behinderung, die auch ihre Mutter hatte, wie ein „Fluch, der über der Familie liegt“.
Daniela Schremm wollte aber unbedingt schwanger werden, sie vermutet, weil es von der Umwelt so vehement ausgeschlossen wurde. Viele Männer „kamen zwar mit der Behinderung klar, konnten sich aber ein gemeinsames, potenziell behindertes Kind eher nicht vorstellen“. Schließlich war bei einer Vererbungswahrscheinlichkeit von fünfzig Prozent das Risiko, mit einer behinderten Frau ein behindertes Kind zu bekommen, relativ hoch. Und für Daniela Schremm war klar, dass sie keine Pränataldiagnostik in Anspruch nehmen wollte, um dieses Risiko auszuschließen.
Zu Beginn der Schwangerschaft suchte sie sich eine Frauenärztin, die akzeptierte, dass Schremm keine Untersuchungen wollte, die nach einer Behinderung des werdenden Kindes suchen. So konnte sie ihren „Schiss, mich die ganze Zeit rechtfertigen zu müssen“ bekämpfen – und für die Ärztin erwies sich das „gemeinsame Abenteuer“ als spannend. Bei jeder Untersuchung musste sie darüber nachdenken, ob diese sinnvoll für die Gesundheit der Schwangeren und des werdenden Kindes sein könnte oder nur nach Anzeichen für eine Behinderung sucht. Für den werdenden Vater war das kein Problem. Mit dem Asylbewerber aus dem Senegal war Daniela Schremm erst kurz zusammen, als sie schwanger wurde. „Für ihn war es klar, dass man nicht in den Bauch guckt“, erinnert sie sich.
Nach der Geburt von Tochter Kiné freuten sich die Großeltern dann doch und Daniela Schremm baute sich ein Netzwerk aus Freund*innen, Bekannten und bezahlten Helfer*innen auf. Das Sozialamt zahlte sieben Stunden täglich eine Haushaltshilfe, die die Aufgaben übernahm, die die junge Mutter aufgrund ihrer Behinderung nicht oder nur schlecht selbst ausführen konnte – so besorgte sich Schremm die Hilfe, die sie brauchte, noch bevor die Behindertenbewegung das Recht auf Persönliche Assistenz erkämpft hatte.
Mittlerweile ist Kiné Schremm 22 Jahre alt – und Elternassistenz ein anerkanntes Konzept für die Hilfe von Eltern mit Beeinträchtigungen. Eltern mit körperlicher oder Sinnesbehinderung, die ihre Erziehungsaufgaben selbst planen und steuern können, erhalten Unterstützung bei der Ausführung, die Assistenz wird zum „verlängerten Arm“ der Eltern. In Deutschland leben etwa 1,8 Millionen behinderte und chronisch kranke Eltern mit ihren minderjährigen Kindern zusammen. Der Anfang 2017 vom Sozialministerium vorgelegte Teilhabebericht über die Lebenslagen von Menschen mit Beeinträchtigungen zeigt, dass nur sieben Prozent von ihnen in Paarbeziehungen mit Kindern leben. 75 Prozent der 25- bis 59-jährigen Menschen mit Beeinträchtigungen wünschen sich zwar Kinder, können sich diesen Wunsch aber seltener erfüllen als nicht-behinderte Personen.
Der Bundesverband behinderter Eltern e.V. (bbe) hat Anfang 2015 deutschlandweit Eltern mit Behinderungen nach ihren Erfahrungen mit der Elternassistenz befragt. Die Umfrage gibt erstmals Einblick, ob diese Unterstützung auch ankommt. Das Ergebnis: Nur jede dritte Familie, die Assistenz benötigt, kann einen Antrag auf finanzielle Unterstützung stellen, da Elternassistenz als Eingliederungshilfeleistung immer noch einkommens- und vermögensabhängig gestaffelt ist. Darum müssen Eltern einen Eigenanteil zahlen oder die Elternassistenz sogar ganz selbst bezahlen, bis ihr „Vermögen“ auf die je nach Familiengröße gültige Grenze verbraucht ist.
„Hier zeigt sich, dass das Fürsorgesystem der Behindertenhilfe ganze Familien in die Armut treibt“, so Kerstin Blochberger von der Beratungsstelle Elternassistenz in Hannover. Auch mit dem höchst umstrittenen, 2016 verabschiedeten Bundesteilhabegesetz würde sich erst mal nur wenig ändern. Zwar hat sich der erlaubte „Vermögens“Freibetrag erhöht – die relevanten Änderungen (wie etwa der Verzicht auf die Anrechnung des Partner*inneneinkommens auf das „Vermögen“ des Assistenz beanspruchenden Elternteils) treten allerdings erst 2020 in Kraft. Erst dann würde sich für die einzelne Familie zeigen, wie sich die neuen Regelungen auswirken, erklärt Blochberger. Paaren, die zu ihr in die Beratung kommen, rät sie daher, „ihren Kinderwunsch bis dahin aufzuschieben“.
Die Ergebnisse der bbe-Umfrage zeigen, dass die betroffenen Eltern mit den verfügbaren Informationen über Unterstützungsmöglichkeiten unzufrieden sind und sich von Ämtern nicht gut beraten fühlen. Wie so oft kommt es auch hier auf den Sachverstand und die Empathie der Sachbearbeiter*innen an – da hat Daniela Schremm, wie sie findet, Glück gehabt. Auch die Entscheidung für das Wohnprojekt sei wichtig gewesen: „In unserem Projekt gab es eine Menge Kinder und wir wollten bewusst nicht in Kleinfamilienstrukturen leben. Vieles haben wir dann gemeinsam organisiert, z. B. die Kinderbetreuung am Nachmittag.“ Auch ihrer Tochter Kiné Schremm ist heute wichtig, wie sie lebt. Sie ist im letzten Winter aus der gemeinsamen Wohnung ausgezogen, ein Jahr lang suchte sie eine barrierearme Wohnung. „Es gab komische Reaktionen, auch manche Bekannte und Freunde mit Behinderung konnten das nicht verstehen, weil ich ja selber keine Behinderung habe“, erzählt sie. „Mir war aber wichtig, dass Mama mich auch besuchen kann. Das wäre seltsam gewesen, wenn ich ihr meine erste eigene Wohnung nicht hätte zeigen können.“
So harmonisch war es zwischen den beiden aber nicht immer. Daniela Schremm erinnert sich, dass es für sie in Kinés Trotzphase sehr schwierig war, sich nicht körperlich durchsetzen zu können. „Es kann ja nicht sein, dass eine Zweijährige darüber bestimmt, wann man nach Hause geht oder ob im Laden Schokolade gekauft wird.“ Wenn Kiné einen Wutanfall hatte, habe sie sich sehr hilflos gefühlt: „Ich habe viele andere, auch alternative Eltern beobachtet, wie die das machen. Die haben alle irgendwann ihr Kind geschnappt, und dann zappelt und meckert es halt, aber man geht nach Hause. Das konnte ich nicht, ich musste immer mit Kiné verhandeln.“
Beim Jugendamt Hilfen zu beantragen, stellte ebenfalls eine große Hürde dar, vor der Daniela Schremm große Angst hatte: „Das war eine Horrorvorstellung, weil ich diese Geschichten über Kindswegnahmen ja kannte. Auch bei mir hätte es aus Sicht des Jugendamtes Gründe gegeben, warum ich angeblich nicht sicher ein Kind erziehen kann. Das wird ja an einer vermeintlich normalen Mutter gemessen.“ Eigentlich gibt es eine gesetzliche Definition für Kindswohlgefährdung – aber, so Daniela Schremm: „Es ist viel von der Sachbearbeiter*in und ihrer Sicht auf Behinderung abhängig. Es gibt immer Situationen, die sind gefährlich für Kinder.“ Laut UN-Behindertenrechtskonvention darf ein Kind den Eltern nicht entzogen werden, nur weil sie eine Behinderung haben, trotzdem geschieht dies immer wieder.
In der Dokumentation „Menschenskinder“ über Eltern mit „geistiger Behinderung“ von 2014 erläutert Julia Zinsmeister, Professorin für Sozialrecht an der TH Köln, dass häufig vorschnell aus der Behinderung der Eltern auf deren angebliche Unfähigkeit geschlossen werde, sich angemessen um ihre Kinder zu kümmern. „Es gibt keinen anderen Punkt im Leben meiner Kolleginnen, in dem die Fremdbestimmung so sehr verinnerlicht wurde und so tief greift“, sagt auch Anne Leichtfuß, Redaktionsassistentin beim inklusiven Magazin „Ohrenkuss“. Die Zeitschrift wird von Menschen mit Down-Syndrom gestaltet und herausgegeben. Leichtfuß hat keine Behinderung. „Selbst die Menschen in der Redaktion mit einem ganz starken Kinderwunsch haben den Reflex, dass ‚das eben nicht geht‘“, sagt sie.
Tina Legde ist 39 Jahre alt und wohnt in Berlin-Köpenick. Eine Einzelfallhelferin für die „Begleitete Elternschaft“ hilft der dreifachen Mutter fünfeinhalb Stunden in der Woche bei der Bewältigung ihres Alltags, bei Behördengängen und passt auch mal auf die Kinder auf. Begleitete Elternschaft steht Eltern mit sogenannter geistiger und psychischer Beeinträchtigung zur Verfügung. Die Helfer*innen unterstützen diese darin, die Bedürfnisse ihrer Kinder wahrzunehmen, zu verstehen und ihnen nachzukommen. Diese Hilfen sind im Sozialgesetzbuch festgeschrieben.
Im Unterschied zu Daniela Schremm hat Tina Legde ihre Schwangerschaft nicht groß angekündigt. Ihre Eltern waren skeptisch, als sie mit Sohn Eric schwanger war, akzeptierten aber, dass sie „es nicht wegmachen“ wollte. Sie brachte noch zwei weitere Kinder, Sarina und Leonie, vom selben Vater zur Welt. Kennengelernt hat sie ihn bereits in der Förderschule. Das Paar trennte sich, als Legde mit dem dritten Kind schwanger war. Das pauschale Urteil, dass Eltern mit Lernschwierigkeiten ihre Kinder nicht gut fördern können, hat sie öfter gehört. Alle ihre Kinder haben Schwierigkeiten beim Lernen, ihre Tochter Leonie hat auch motorische Einschränkungen.
„Oftmals wird die Erblichkeit der Lernschwierigkeit angenommen, diese trifft jedoch nur in seltenen Fällen zu. Tatsächlich vererbt wird jedoch die soziale Benachteiligung und ihre Folgen wie Armut – und zwar nicht durch biologische Vorgänge, sondern durch das Aufwachsen und anschließende Verbleiben in einer gesellschaftlich stark benachteiligten Position“, sagt Swantje Köbsell, Professorin für Disability Studies an der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und langjährige Aktivistin der Behindertenbewegung. Tina Legde selbst nennt es eine „Lernbehinderung“, bekannter ist der Ausdruck „geistige Behinderung“. Gegen diesen Begriff wehren sich allerdings viele der betroffenen Menschen, vor allem das in den 1970er-Jahren in den USA gegründete Netzwerk People First. Der seit 2001 auch in Deutschland bestehende Verein setzt sich für die Verwendung des Begriffs „Menschen mit Lernschwierigkeiten“ ein.
„Jedes Kind ist eine Herausforderung“, sagt Legde und bezieht dies nicht auf ihre Behinderung, sondern auf das Muttersein. Genau wie sie bekommen auch ihre Kinder eine Einzelfallhilfe zur Seite gestellt. Diese hilft vornehmlich bei den Hausaufgaben und hält Kontakt zum Jugendamt. Im Falle des 15-jährigen Eric beobachtete das Amt zunehmende Spannungen zwischen dem Jungen, der Mutter und dem Einzelfallhelfer. Deshalb veranlasste die Behörde den Umzug in eine Wohngruppe mit anderen Jugendlichen. Tina Legde sagt: „Das ist besser so, man muss auch Grenzen setzen.“ Eric meint: „Schade, aber es geht nicht anders.“ Zweimal in der Woche besucht er die Familie. Seine Mutter bedauert, ihm bei den Hausaufgaben nicht helfen zu können, möchte dies aber nicht vorgeworfen bekommen. „Manches verstehe ich einfach nicht“, sagt sie. Ihr Sohn hat auf eigenen Wunsch Kontakt zu seinem Vater, die beiden Mädchen nicht.
Tina Legde empfand das Leben mit Kindern als große Umstellung: „Man ist nicht mehr zu zweit und finanziell ist es auch etwas anderes.“ Erst neulich meldete sie sich bei der Berliner Tafel an. Von Lohn, Grundsicherung und Kindergeld bleibt nicht viel übrig. Letztes Jahr hat sich Ledge entschieden, vom ersten in den zweiten Arbeitsmarkt, in eine sogenannte Behindertenwerkstatt zu wechseln. Nach ihrer Ausbildung zur Hauswirtschaftlerin hatte sie verschiedene Putz- und Küchenstellen. Jedoch wuchs das Gefühl, den Anforderungen nicht mehr gewachsen zu sein. In der Werkstatt gilt sie nicht mehr als zu langsam, muss nicht so schnell umdenken. „Es ist einfacher“, resümiert sie. Sie reinigt die Räume einer Behindertenwerkstatt in der Nähe ihres Wohnorts. Bei solchen Entscheidungen wird sie von ihren Helfer*innen begleitet. „Ich arbeite vier Stunden die Woche, das reicht mir auch. Denn zu Hause kann ich nicht einfach die Füße hochlegen.“ Schließlich geht dann die Arbeit mit der Familie los. Ein finanzielles Polster anzulegen ist so nicht möglich.
Swantje Köbsell erklärt, Armut sei bei Menschen mit Lernschwierigkeiten nur eine soziale Problemlage, die sich häufig mit anderen überschneidet, wie familiale Gewalterfahrungen, geringe Bildung, schlechtere Einbindung in soziale Netzwerke, geringere Sozialkompetenz im Umgang mit Behörden und Ämtern. „Es ist kaum möglich zu sagen, welche Probleme ursächlich auf die Lernschwierigkeit zurückzuführen sind oder auf eine der anderen angeführten Benachteiligungen.“ Sozial eingebunden ist Tina Legde. Mit Kolleginnen in der Behindertenwerkstatt, die auch Mütter sind, tauscht sie sich über die Kinder aus: Alle hoffen, dass die Pubertät schnell vorbeigeht. Im Leben von Tina Legde und ihren Kindern muss viel koordiniert werden, zwischen der Wohngruppe des Sohnes, den verschiedenen Helfer*innen, der Bewegungs- und Sprachtherapie, aber auch Arbeit, Haushalt, Schule, Haustiere, Exfreund. Für die Legdes sind diese Regelungen und Absprachen ganz normaler Alltag.
Daniela Schremm und Tina Legde bekamen und bekommen weitgehend jene Unterstützung, die sie brauchten und brauchen. Selbstverständlich ist das aber immer noch keineswegs. Frauen mit verschiedenen Behinderungen müssen sich weiterhin mit Vorurteilen aus dem familiären und sozialen Umfeld sowie mit übergriffigen Kommentaren von Unbekannten auseinandersetzen. Das Unverständnis von Behörden und der gesellschaftliche Blick auf Behinderung als Mangel erschweren zu oft ein selbstbestimmtes Leben. Die reproduktiven Rechte von Frauen mit Behinderung sind nicht gesichert – eine feministische Kernfrage, die noch zu selten auf der Agenda steht.