27. November 2015, Süddeutsche.de
Dass Frauen das Recht auf Abtreibung haben sollten, ist innerhalb der Frauenbewegung Konsens. Kirsten Achtelik betritt daher dünnes Eis, wenn sie in ihrem Buch „Selbstbestimmte Norm“ mit der Pränataldiagnostik abrechnet, weil diese zu selektiven Abtreibungen führe. Dabei erliegt sie jedoch nicht der Versuchung, Behinderten- und Frauenrechte gegeneinander auszuspielen, sondern fordert für alle mehr Selbstbestimmung – auch wenn das heißen würde, auf Informationen zu verzichten.
Interview von Barbara Vorsamer
SZ: Frau Achtelik, Sie bezeichnen sich als Feministin und sehen Abtreibung kritisch. Wie passt das zusammen?
Kirsten Achtelik: Wenn eine Frau ungewollt schwanger ist und sie zu diesem Zeitpunkt kein Kind haben will, dann sollte sie ihre Schwangerschaft beenden dürfen. Kritisch sehe ich es, wenn eine Frau zwar ein Kind will – aber nicht dieses. Hier wird aus dem Recht auf Abtreibung eine Pflicht zur Selektion und aus den Möglichkeiten der Pränataldiagnostik ein Qualitätscheck für zukünftige Babys. Das kommt in der feministischen Debatte selten vor.
Warum ist das so?
Abtreibung ist in Deutschland eine Straftat nach Paragraf 218 und nur unter bestimmten Umständen straffrei. Feministische Aktivistinnen sind daher noch damit beschäftigt, für Frauen das uneingeschränkte Recht zu erkämpfen, selbst über ihr Leben und ihren Körper zu entscheiden. Zu thematisieren, dass Schwangerschaftsabbrüche auch problematisch sein können, kommt manchen einem Angriff auf die Selbstbestimmung der Frau gleich. Doch eine Schwangere auf dem Gynäkologenstuhl ist oft nicht besonders selbstbestimmt.
Unterschätzen Sie die Frauen da nicht?
Nein. Die Frage, wie selbstbestimmt wir wirklich sind, ist eine grundsätzliche. Niemand – nicht Frau, nicht Mann – ist komplett selbstbestimmt, wir unterliegen immer gesellschaftlichen Einflüssen. Einer Schwangeren wird von Ärzten suggeriert, dass es Standard ist, vor der Geburt alles Mögliche abklären zu lassen. Auch das Umfeld macht mit, Fragen wie „Ist alles in Ordnung mit dem Baby?“ oder „Hast du diese oder jede Untersuchung schon gemacht?“ werden Schwangeren ständig gestellt. Wer keine pränatale Diagnostik wünscht, muss sich gegen viele Widerstände durchsetzen und sehr gut informiert sein. Anders gesagt: Um ihr Recht auf Nicht-Wissen durchzusetzen, muss eine Frau erst mal sehr viel wissen.
Was spricht dagegen, so viel wie möglich über das Ungeborene herauszufinden? Allein durch das Wissen kommt es ja nicht zu einem Abbruch.
Eben doch. Die wenigsten Eltern überlegen sich vorher, was sie tun wollen, wenn eine Auffälligkeit festgestellt wird. Die Motivation für die Tests ist meistens, dass sie erfahren wollen, dass alles in Ordnung ist. Ist das nicht der Fall, wird eine Abklärungsdynamik in Gang gesetzt, an deren Ende eine Entscheidung ansteht. Und dass die meistens „Abbruch“ heißt, ist systemimmanent: Die große Mehrheit aller Föten, bei denen Trisomie 21 festgestellt wird, werden abgetrieben. Das erhöht den Druck dann zusätzlich. Es ist erschreckend, wie viele Eltern von Kindern mit Behinderung gefragt werden: „Wusstet ihr das nicht vorher?“ Das ist eine übergriffige Frage, die impliziert: Warum habt ihr dieses Kind bekommen? Warum habt ihr es nicht abgetrieben? Solche Fragen sind ein Skandal!
Hier sind Sie auf einer Linie mit den selbsternannten Lebensschützern, die Abtreibung unter Strafe stellen wollen und unter anderem mit Lebensrecht behinderter Menschen argumentieren. Sind das Ihre Verbündeten?
Auf gar keinen Fall. Die Argumentation der Lebensschützer ist unredlich. Sie benutzen die Rechte behinderter Menschen nur als Vorwand, um Druck auf Frauen auszuüben. So versuchen sie, sich als die einzigen Vertreter eines positiven Menschenbildes zu verkaufen, das dem Leben zugewandt ist. Ich hingegen fordere ein uneingeschränktes Recht auf Abtreibung, lehne aber gleichzeitig selektive Diagnostik ab. Mir geht es darum, Frauenbewegung und Behindertenbewegung zusammenzubringen.
Welche Untersuchungen sehen Sie kritisch? Welche sind in Ordnung?
Ich kritisiere vorgeburtliche Diagnostik nicht grundsätzlich, sondern ihre versteckte Intention, alles auszusortieren, was der Norm nicht entspricht. Daher kann ich nicht nach Methoden unterscheiden und etwas sagen wie: Ultraschall ist gut, Fruchtwasseruntersuchung ist schlecht. Wichtiger finde ich die Frage: Was will ich wissen? Und warum? Natürlich ist es sinnvoll, vor der Geburt zu gucken, wie der Fötus liegt. Bei manchen Behinderungen ist es wichtig, pränatal bestimmte Dinge abzuklären, falls das Kind direkt nach der Geburt behandelt werden muss. Solche Untersuchungen abzulehnen würde uns in vormoderne Zeiten mit hoher Säuglings- und Müttersterblichkeit katapultieren. Was ich ablehne, ist das ganze System der Risikoberechnung, die Suche nach der Normabweichung und deren Problematisierung. Das wird routiniert und ständig gemacht. Es hat zwar Verschärfungen gegeben, zum Beispiel darf die Nackenfaltenmessung nicht mehr ohne vorherige Beratung gemacht werden. Viele Ärzte machen das aber trotzdem. Problematisch finde ich auch den so genannten „großen Ultraschall“ im sechsten Monat, bei dem alle Organe des Fötus angeschaut und vermessen werden. So wird geprüft, ob das zukünftige Baby den Normen entspricht.
Dabei sind selektive Abtreibungen in Deutschland gar nicht erlaubt, oder?
Stimmt, einen Abbruch mit einer Behinderung des Fötus zu begründen, ist in Deutschland nicht legal. Hier wird der Umweg über die zukünftige Mutter gegangen und die Abtreibung mit einer möglichen Gefahr für die psychische Gesundheit der Frau gerechtfertigt. Neuerdings ist gesetzlich geregelt, dass zwischen einer Diagnose des Fötus und Indikationsstellung der Frau drei Tage verstreichen müssen. Als ob die psychische Verfassung der werdenden Mutter in einer dreitägigen Wartezeit und mit einer Pflichtberatung auf die Schnelle positiv beeinflusst werden könnte!
In anderen Ländern wird noch mehr selektiert, zum Beispiel werden weltweit deutlich mehr Mädchen als Jungen abgetrieben. Hierzu hat der Feminismus bestimmt eine eindeutige Position, oder?
Den einen Feminismus gibt es nicht, aber es stimmt, die meisten Feministinnen sind ganz klar gegen eine Selektion nach Geschlecht. Manche sprechen sogar von einem Feminizid, also von einem Massenmord an Mädchen. An dieser Stelle zeigt sich die Widersprüchlichkeit des feministischen Standpunkts: Ein Mädchen abzutreiben, weil es ein Mädchen ist, ist diskriminierend und sexistisch – soweit sind sich alle einig. Wenn aber ein Fötus abgetrieben wird, weil er möglicherweise behindert ist, läuft das unter Selbstbestimmung der Frau. Doch auch diese Argumentation ist diskriminierend. Der Wunsch nach einem Normkind ist nicht feministisch.
Ist das wirklich vergleichbar? Hier werden viele einwenden, dass das Leben mit einem behinderten Kind doch deutlich schwieriger sei als mit einem Mädchen.
Behinderung mit Problemen gleichzusetzen ist falsch. Das Leben mit einem behinderten Kind muss nicht schwieriger sein als mit einem nicht behinderten Kind – von den zahlreichen pränatalen Falschdiagnosen und all den Behinderungen, die erst bei und nach der Geburt entstehen, will ich an dieser Stelle gar nicht erst anfangen. Zweitens sind durchaus Situationen vorstellbar, in denen ein weiblicher Fötus ein großes Problem für die werdende Mutter ist. Was ist, wenn es in der Familie den Druck gibt, doch nun endlich einen Thronfolger zu produzieren statt eine vierte, fünfte oder sechste Prinzessin? Wenn sie auch lieber einen Jungen will, müsste der Frau nach der Selbstbestimmungslogik Abtreibungen erlauben, bis sie ein männliches Kind in sich trägt. Hier ist der Konsens: Das geht nicht. Ich bin der Meinung, Föten, die möglicherweise behindert sind, auszusortieren, geht genausowenig.
Was muss sich dafür Ihrer Meinung nach ändern?
Selektive Abbrüche zu verbieten ist der falsche Weg, im Gegenteil: Der Paragraf 218 muss endlich abgeschafft werden, Abtreibung aus egal welchem Grund muss legal sein. Ich möchte viel früher ansetzen, nämlich bei der Suche nach dem Fehler. Einer Studie der Bertelsmann-Stiftung zufolge haben Frauen im Schnitt acht Ultraschalluntersuchungen in einer Schwangerschaft. Acht! Zur Regelversorgung gehören in Deutschland drei Ultraschalls und schon damit liegen wir im internationalen Vergleich an der Spitze.
Dieser Diagnosekreislauf muss unterbrochen werden. Die meisten Tests, die während einer Schwangerschaft gemacht werden, sind keine medizinisch sinnvollen Untersuchungen. Niemand profitiert gesundheitlich von ihrem Ergebnis. Daher bin ich dafür, sämtliche selektive Pränataldiagnostik aus der medizinischen Grundversorgung herauszunehmen.
Selektive Untersuchungen müssten meiner Meinung nach sogar komplett verboten werden. Sie können als „schädliche Praktiken“ nach der UN-Behindertenrechtskonvention eingeschätzt werden, da sie dazu beitragen, das Bild zu verfestigen, dass eine Behinderung mit Leiden und Schmerzen und einem unerträglichen Leben zu tun hat, und dass man dem durch eine Abtreibung entgehen könne.