Die Probleme der linken Palästina-Solidarität, Kommentar im nd vom 21.10.2023
»Free Palestine from German guilt«, riefen mehrere Dutzende Protestierende, die am Mittwochabend eine Blockade vor dem Auswärtigen Amt in Berlin bildeten. Auf dem von der »Berliner Zeitung« verbreiteten Video ist zu erkennen, dass es größtenteils links und westlich aussehende junge Menschen sind, die diese Parole rufen. Vom »deutschen Schuldgefühl« wollen sie Palästina befreien, offensichtlich in der Annahme, dass die deutsche Gesellschaft und der deutsche Staat ohne dieses spezifisch deutsche Schuldgefühl den »Befreiungskampf« der Palästinenser*innen unterstützen würden.
Gegen den »deutschen Schuldkult« wettern sonst extreme Rechte, Nazis und die AfD, denen die kritische Erinnerung an den Nationalsozialismus naturgemäß widerstrebt. Sie möchten das Gedenken an die Shoah beenden, damit Deutschland wieder eine stolze, eine vermeintlich normale Nation sein kann. Je weniger die Handlungen und Ideologien der Nationalsozialisten problematisiert werden, desto weniger problematisch erscheint aufgewärmte und modernisierte Nazi-Propaganda. Das ist zwar ekelhaft, hat aber seine eigene Logik.
Warum aber schlagen Linke in die gleiche Kerbe? Tatsächlich ist dieser Slogan nicht neu, er ist seit Jahren auf Kreuzberger Demonstrationen zum 1. Mai und auf alternativen Pride-Paraden zu hören. Häufig kommt der Vorwurf eines falschen und fehlgeleiteten Schuldgefühls der Deutschen von Linken, die in spanisch- oder englischsprachigen Ländern sozialisiert worden sind. Aber auch dogmatische maoistische, leninistische und andere »rote Gruppen«, genauso wie antikoloniale Queers, nutzen diese Kritik an der deutschen Erinnerungskultur. Das Beharren auf der eigenen, deutschen Verantwortung für die Shoah und dem Versuch, dem Schwur »Nie wieder!« gerecht zu werden, gilt ihnen nicht als verantwortungsvoller Umgang mit der NS-Vergangenheit, sondern als Hindernis im politischen Kampf.
Ihnen ist es ein Dorn im Auge, dass sich Teile der Linken in Deutschland (und anderswo) um komplexere Analysen bemühen, die nicht in ein einfaches »Wir hier unten – die da oben«-Schema passen. Das kann Linken, deren Weltbild aus vereinfachter Hierarchiekritik und Freund-Feind-Denken besteht, nicht gefallen.
Aus der Reflexion über und der Verantwortungsübernahme für die Shoah ergibt sich eine Analyse von Antisemitismus, die nicht einfach nur »Judenhass« ablehnt, sondern ideengeschichtliche und ideologische Komplexitäten mitdenkt. Antisemitische Vorurteile imaginieren jüdische Menschen beispielsweise als universell mächtig, als verdeckte »Strippenzieher«. Das findet sich wieder in so mancher Kritik am Staat Israel und seiner Rolle in der internationalen Politik.
Das solidarische Einstehen für den Staat Israel als einzigen und notwendigen Schutzraum für Jüd*innen ist angesichts von Pogromen und Shoah eine Schlussfolgerung aus der Geschichte und dem Nachdenken über Ursachen und Äußerungsformen von Antisemitismus. Einer pro-palästinensischen Linken, die Israel als Aggressor dämonisiert und weltweit nach den schlimmsten Unterdrückungssystemen sucht, um sie mit Israel zu vergleichen, ist eine solche Solidarität natürlich ein Dorn im Auge.
Analytisch muss das nicht sauber sein. Hauptsache es funktioniert, generiert Aufmerksamkeit und Druck, sich auf die vermeintlich moralisch eindeutige Seite der Unterdrückten und Schwachen zu schlagen. Den oft postkolonial argumentierenden Linken scheint ja auch noch nicht als Widerspruch aufgefallen zu sein, dass Jüd*innen zur indigenen Bevölkerung des Gebietes an der östlichen Mittelmeerküste gehören und keine Kolonialsiedler sein können.
Gegen eine Nähe der eigenen Argumentation mit der deutschen extremen Rechter schottet man sich mit der Betonung des eigenen Antirassismus ab. In der Bewegung stört man sich auch nicht an einem Neben- und Miteinander von Hamas-Unterstützer*innen und Aktivist*innen, die das Massaker und die Geiselnahmen ablehnen. Viele entschuldigen das Massaker der Hamas als Reaktion auf die vermeintliche israelische Unterdrückung oder verurteilen es zwar kurz, um gleich darauf umso wortreicher die Leiden der palästinensischen Bevölkerung im Gazastreifen zu beklagen.
Solche Szenen wie vor dem Auswärtigen Amt zeigen, dass es sich keineswegs um »importierten Antisemitismus« handelt, den die »FAZ« bei den Ausschreitungen in Berlin-Neukölln herbeifabuliert. Der linke und queere Antisemitismus ist ein deutsches Problem.